Serie 24 Stunden - 24 Menschen Kaffee, Kuchen und der Arbeitsmarkt

Solingen · Zwischen 15 und 16 Uhr ist Kaffeestunde in der Bahnhofsmission und an manchen Tagen kann Bernd Nerlich dazu auch ein Stück Kuchen servieren. Dann diskutiert es sich besonders gut. Manche wollen auch einfach nur ihre Ruhe oder hören zu.

Die erste Tasse Kaffee ist umsonst, die zweite und alle weiteren kosten 20 Cent. "Und trotzdem sind die Leute hier sehr freundlich, nicht wie sonst, wo der Grad der Freundlichkeit mit der Höhe der Preise im Zusammenhang steht", sagt Markus. Der Wuppertaler ist nur gelegentlich Gast in Solingen. Er genießt es, außerhalb des Bahnlärms in Ruhe seinen Kaffee zu trinken und sich zu unterhalten. Wie zum Beispiel vor einigen Wochen mit dem alten Mann, Jahrgang 1932, der hat von den Phosphorbomben erzählt, die im Krieg auf Solingen fielen, sagt Markus, das sei sehr ergreifend gewesen.

Bernd Nerlich kennt diese Geschichten gut. Der hauptamtliche Mitarbeiter und Anleiter bei der ökumenischen Bahnhofsmission serviert Kaffee und kann den Besuchern an diesem Nachmittag auch ein Stück Kuchen dazu kostenlos anbieten. Die Spendenbereitschaft, sagt Bernd Nerlich, ist sehr groß hier im Umfeld in Ohligs, besser noch als in Wuppertal, wo Caritas und Diakonie auch eine Bahnhofsmission unterhalten. Auch wenn er viele Geschichten der Menschen kennt, die in der Bahnhofsmission Hilfe suchen oder einfach nur einen Gesprächspartner, staunt er trotzdem manchmal über die Lebensgeschichten und Schicksale, die ihm anvertraut werden.

Johann hat es aus Ostfriesland nach Solingen verschlagen. Bei einem seiner ersten Besuche der Bahnhofsmission in Ohligs brachte er eine Paket Kandiszucker mit, erinnert sich Bernd Nerlich. Natürlich trinkt Johann als echter Ostfriese Tee, und er kennt sich aus: erst Kandis in die Tasse, dann Tee und zuletzt Milch oder Sahne. "Wenn die Sahne vor dem Tee in die Tasse kommt, gibt es Wölkchen", sagt Johann. Und er weiß: Im kleinen Ostfriesland wird mehr Tee getrunken, als in ganz Indien oder Russland.

Nicht alle aus der Kaffeerunde am Nachmittag wollen ihren Namen sagen, ihre Geschichten sprechen dennoch für sich und lassen ahnen, welches Schicksal dahinter steht. "Als ein Reporter die Krups-Mitarbeiter nach der endgültigen Schließung des Werks fragte, wie er sich fühle, da hätte er reinschlagen können", sagt einer aus der Kaffeerunde. Wer damals arbeitslos wurde, keine Verbindungen hatte und ein gewisses Alter, der habe doch keine Chance, wieder irgendwo beruflich Fuß zu fassen, sagt der Mann mit dem Strohhut.

Mit solchen Schicksalen sind Bernd Nerlich und die Standortverantwortliche Verena Zinn täglich konfrontiert. Wie das des Rentners, der jeden Tag seine Runden in Wuppertal und Solingen dreht, um Flaschen zu sammeln, für die er ein paar Cent Pfand erlösen kann. Auch er ist zur Kaffeestunde gekommen und nimmt dankbar das kostenlose Angebot an. Wie auch die ältere Frau, die vor kurzem ihre Tochter verloren hat. Bernd Nerlich kennt auch sie und gibt ihr zum Kaffee einen großen Löffel, weil ihre Hände so stark zittern und sie damit besser zurecht kommt.

Acht ehrenamtliche Mitarbeiter halten den Betrieb in der Bahnhofsmission montags bis freitags von 10 bis 18 Uhr aufrecht. "Weitere sind herzlich willkommen", sagt Verena Zinn. "Wer mitmachen will, wird geschult, bekommt eine Ausbildung in Erster Hilfe und vor allem, ein tolles Betriebsklima", wie alle übereinstimmend sagen, Mitarbiter wie Besucher. Die werden manchmal auch am Bahnsteig in Empfang genommen, wie der Neunjährige, der aus Versehen in Solingen statt in Köln ausgestiegen war, oder die ältere Dame, deren Kreislauf schlappmachte und die sich dann fast eine Stunde in den Räumen der Bahnhofsmission aufhielt. "Später bekamen wir einen Dankesbrief von ihr", sagt Verena Zinn, "es ist schön, dass unsere Arbeit geschätzt wird."

Kleine Recherchen im Internet, ein Fax verschicken, eine Telefonnummer heraussuchen, auch das gehört zum Service. Gut ist die Zusammenarbeit mit der Ohligser Polizeiwache, wenn es Probleme gibt. Die Bahnhofsmission selbst soll geschützter Rückzugsraum bleiben, die Polizei darf ihn nur betreten, wenn die Mitarbeiter es erlauben.

Wertvoll ist die gute Vernetzung, zum Beispiel mit dem Frauenhaus oder der nahegelegenen Praxis ohne Grenzen, die bedürftige Menschen ohne Krankenschein behandelt. Sie alle helfen und fragen nicht, warum ein Mensch gerade Hilfe braucht - sei es in Form einer medizinischen Behandlung oder einfach nur in Form einer Tasse Kaffee.

(RP)
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