90 Jahre Großstadt Solingen „Klingenstadt ist Ausdruck Solinger Stärke“

Der Oberbürgermeister spricht im Interview über Rolle von Solingen in der Metropolregion Rheinland und wie sich die Stadt für die Zukunft aufstellen will. Er fordert einen Schuldenschnitt.

 Tim Kurzbach sieht die Verwurzelung der Solinger in ihren Stadtteilen und Hofschaften als Stärke an.

Tim Kurzbach sieht die Verwurzelung der Solinger in ihren Stadtteilen und Hofschaften als Stärke an.

Foto: Meuter, Peter (pm)

Herr Kurzbach, gehen wir recht in der Annahme, dass Ihnen Ihr Job im Augenblick besonders viel Spaß macht.

Kurzbach (lacht) Also, das Amt des Solinger Oberbürgermeisters bereitet mir fast immer Freude. Warum fragen Sie?

Weil sich in „Ihrem“ Stadtteil gerade besonders viel tut. Nehmen wir nur die Grundsteinlegung für das neue O-Quartier, das Sparkassen-Projekt am Markt und die Verschönerung der Fußgängerzone. Das muss doch für Sie als gebürtigen Ohligser wie Weihnachten und Ostern an einem Tag sein. Und das alles auch noch pünktlich zum 90. Stadtgeburtstag.

Kurzbach Darf ich kurz eine Gegenfrage stellen?

Nur zu . . .

Kurzbach Sind Sie gebürtiger Solinger?

Nein.

Kurzbach (lacht) Nicht schlimm. Ich glaube allerdings, dass man Solingen nur gerecht wird, wenn man die Stadt in ihren vielen Teilen als etwas Ganzes begreift. Solingen ist eine Stadt, die sich aus ihren Stadtteilen zusammensetzt. Und ich würde sogar noch einen Schritt weitergehen: Solingen ist nicht allein eine Stadt der Stadtteile, sondern auch der Hofschaften sowie der unterschiedlichen Landschaften.

Zwischen Ohligs und Burg existieren tatsächlich große Unterschiede. Der Westen von Solingen ist Rheinland, der Osten Bergisches Land.

Genau. Wobei Landschaften Menschen prägen. Das alles schafft bis heute Identitäten. Man muss diese Struktur verstehen, um die Stadt zu verstehen. Es geht also nicht um kleinstädtisches Denken, wenn die Solinger auch nach 90 Jahren Großstadt Solingen weiterhin in ihrem Stadtteil oder in ihrer Hofschaft verwurzelt sind. Im Gegenteil: Daraus wird etwas Ganzes, das ist die Solinger Stärke.

Sie haben es gerade angesprochen. Dieses Jahr wird die Großstadt Solingen 90 Jahre alt. Man hat jedoch nicht den Eindruck, dass dieser Geburtstag groß gefeiert wird.

Kurzbach Nun ja, 90 Jahre sind ja auch kein wirklich runder Geburtstag. Aber ein wenig gefeiert wird schon. In diesem Sommer gab es ein einziges Wochenende, an dem nicht an einer der vielen Ecken unserer Stadt gefeiert worden ist. Und übrigens hat auch unser Stadtarchivar Ralf Rogge kürzlich noch einen Vortrag über die Großstadt-Gründung gehalten. Doch wichtig ist ohnehin, dass neben der Rückschau auch der Blick nach vorne geht. Und dabei wird deutlich, dass wir eine Stadt sind mit vielen Geburten und Zuzügen, die überdies wirtschaftlich prosperiert.

Viele Menschen von außerhalb nehmen Solingen aber hauptsächlich als eine Art Vorort der Metropolen Düsseldorf und Köln wahr. Das ist doch eher unbefriedigend.

Kurzbach Diesen Eindruck habe ich nicht. Sehen Sie, wir sind Mitglied in der Metropolregion Rheinland. Das ist eine Region mit rund acht Millionen Einwohnern. Und selbstverständlich haben wir als Stadt dort Gewicht. Ich selbst bin als Solinger Oberbürgermeister einer der Stellvertreter der Vorsitzenden, der Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker. Wir spielen also durchaus auch auf dieser Ebene eine Rolle. Solingen als Bestandteil des Rheinlandes – das wird immer wichtiger.

Trotzdem, die Sicht von außen ist häufig eine andere. Das wird zum Beispiel deutlich, wenn die Verantwortlichen in Düsseldorf auf das Umland, also auch auf Solingen verweisen, sobald es darum geht, Bauland zu schaffen. Eine ziemlich einseitige Aufgabenteilung.

Kurzbach Wir befinden uns in einem regen Austausch mit den Nachbarstädten. Dabei gehen wir viele Themen an – auch dieses. Das ist natürlich ein Prozess. Wir müssen in der Region begreifen, dass wir aufeinander angewiesen sind.

Woran denken Sie dabei besonders?

Kurzbach Speziell an Dinge, die mit der Infrastruktur zusammenhängen. Diesen Punkt treiben gerade wir von Solingen aus voran. 2016 sind wir in der Stadtkirche erstmals mit allen Städten und Gemeinden aus unserer Nachbarschaft zusammengekommen. Und seitdem entwickeln wir Konzepte und Broschüren, die ineinandergreifen. Es geht um Verkehr genauso wie um Wohnen und Arbeit.

Arbeit ist ein gutes Stichwort. Im Augenblick kann man bei den Diskussionen in der Stadt den Eindruck bekommen, als ginge es nur noch darum, neue Wohnflächen zu erschließen. Das geht dann aber zu Lasten von zukünftigen Gewerbeflächen.

Kurzbach Aus diesem Grund verfolgen wir in Solingen eine Strategie, die beides – Wohnen wie Arbeit – verbindet. Für mich ist klar, dass wir auch Flächen für Industrie sowie Gewerbe benötigen. Und dabei sind wir in Solingen auf einem guten Weg, vor allem bei der Altlastensanierung. Denken Sie nur an das Rasspe-Areal, auf dem in den nächsten Jahren viele neue Firmen angesiedelt werden.

Eine weiteres altes Industriegelände ist das Grossmann-Grundstück in Wald.

Kurzbach Richtig. Selbstverständlich müssen wir dort die weitere Entwicklung abwarten. Ziel muss es sein, einen spannenden und nachhaltigen Mix aus Wohnen und überwiegend Gewerbe hinzubekommen. Welche Art von Gewerbe dort beheimatet sein wird, wird man sehen. Eine enge Verzahnung von Wohnen und Gewerbe, wie sie lange für Solingen typisch war, wird heute nicht mehr so ohne Weiteres akzeptiert. Aber selbstverständlich ist es so, dass es auch in Zukunft Platz für Industriebetriebe geben muss und wird.

Über Jahre und Jahrzehnte hinweg hatte man aber eher den Eindruck, als würde die Industrie nach und nach aus Solingen verschwinden.

Kurzbach Das sehe ich anders. Es existieren auch heute noch viele bekannte Firmen in der Stadt. Und neue kommen hinzu. Vielleicht reden wir noch zu wenig über unsere Erfolge. Die sind aber vorhanden. Erst kürzlich sind wir von zwei Firmen aus dem Rheinland angesprochen worden, die zu uns kommen wollen. Dementsprechend müssen wir viel dafür tun, vorhandene Flächen völlig neu zu entwickeln. Das ist die Herausforderung, aber gleichzeitig auch die Chance. Wir haben aktuell 100.000 Quadratmeter Gewerbefläche.

Steht da die Bezeichnung „Klingenstadt“ nicht etwas im Weg? Die klingt doch irgendwie antiquiert.

Kurzbach Das finde ich überhaupt nicht. Vielmehr ist die Bezeichnung „Klingenstadt“ ein Ausdruck der Solinger Stärke. Es ist schließlich kein Widerspruch, ein alter sowie traditionsreicher Industriestandort und gleichzeitig auch modern und zukunftsorientiert zu sein – sich also parallel als Zentrum der 3D-Technologie zu etablieren..

Das Problem ist, dass manche Sachen nicht in Solingen gelöst werden können. Man denke nur an das Thema Gewerbesteuer. Da will zum Beispiel Leverkusen die Schraube nach unten drehen.

Kurzbach Wir sollten erst mal abwarten, wie sich die Diskussion in Leverkusen weiterentwickelt. Vom Grundsatz her liegen Sie mit der Frage aber richtig. Es geht auch um Dinge, die nicht spezifisch für Solingen sind, bei denen deutschlandweit die Hausaufgaben erledigt werden müssen. Es muss dringend in Bildung und Digitalisierung investiert werden. Wir haben da in Solingen mit unseren Investitionen in Schulen und Kindergärten einen deutlichen Anfang gemacht, nachdem über Jahrzehnte hinweg diesbezüglich zu wenig in unserer Stadt geschehen ist. Es ist die größte Investitionsoffensive seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges.

Und auch nicht geschehen konnte, weil Ihren Vorgängern die Hände gebunden waren. Zur Wahrheit gehört ebenfalls, dass erst eine andere Politik der Bezirksregierung diese Investitionen möglich macht. Stichwort: Kreditermächtigung. Und es ist ja auch nicht so, dass die neuen Schulden nicht irgendwann wieder zurückgezahlt werden müssen.

Kurzbach Alles richtig. Aber ein paar Sachen sind zu diesem Thema schon noch zu sagen. Zum Beispiel, dass wir nicht in den Konsum, sondern in die Zukunft investieren, was dringend notwendig ist. Ferner haben wir es seit 2018 mit einer breiten Ratsmehrheit geschafft, einen ausgeglichenen Haushalt vorzulegen. Und das wird uns auch bei der Verabschiedung des Etats für 2020 mit vereinten Kräften im Rat für Solingen gelingen. Prinzipiell gebe ich Ihnen aber recht: Es sind immer wieder von Bund und Land Aufgaben an die Kommunen übertragen worden. Und da ist es nur fair, dass diese beiden Ebenen auch die Kosten übernehmen. Aus eigener Kraft kommen wir von den Altschulden nicht herunter.

Ein bisschen ist Städten wie Solingen ja geholfen worden. Über den Stärkungspakt gibt es noch bis 2021 Geld vom Land.

Kurzbach Der Stärkungspakt war der erste wichtige Schritt, der von der ehemaligen rot-grünen Landesregierung gegangen wurde. Jetzt benötigen wir den zweiten Schritt. Es ist ein Altschulden-Fonds versprochen worden. Da ist die derzeitige Landesregierung in der Pflicht. Um es klar zu sagen: Wir brauchen einen Schuldenschnitt. Ohne geht es nicht. Hierzu hatte ich gerade einen guten Austausch mit Landesministerin Ina Scharrenbach.

Damit Solingen seinen 100. Geburtstag auch noch erlebt.

Kurzbach (lacht) Da machen Sie sich mal keine Sorgen. Und seien Sie sicher: Dann werden wir auch feiern. Zum Beispiel, weil unser batteriebetriebene Oberleitungsbus mittlerweile zu einem Exportschlager geworden ist. Nur klar ist auch: Bis dahin haben wir noch viele Aufgaben zu erledigen – auf allen Gebieten.

 Ein nachhaltiger Mix aus Wohnen und überwiegend Gewerbe soll auf dem Grossmann-Gelände in Wald entstehen.

Ein nachhaltiger Mix aus Wohnen und überwiegend Gewerbe soll auf dem Grossmann-Gelände in Wald entstehen.

Foto: Köhlen, Stephan (teph)

Was wünschen sie sich denn zum 100. Geburtstag der Großstadt Solingen?

Kurzbach Das wir auch dann noch eine friedliche und plurale Gesellschaft sind. Wir müssen uns selbst gegenüber auch mal großzügig sein. In Solingen ist gewiss nicht alles super. Aber ich lebe sehr gerne mit meiner Familie in Solingen und liebe so viel Einzigartiges an unserer Stadt.

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