Solingen Himmel der Freuden ist hohler Schein

Solingen · Opernpremiere der Eigeninszenierung: Händels "Alcina" wird entrümpelt und zum subtilen Kammerspiel.

"In unserem Jahrhundert macht sich eine völlige Stagnation geltend, indem das Repertoire so gut wie nichts Neues mehr aufnimmt. Die Gruppe der immer wieder begehrten Werke ist praktisch abgeschlossen. Das Neue, immer seltener als Ausnahme zugelassen, wird sogleich wieder ausgeschieden." An dem, was der Komponist Ernst Krenek vor über 80 Jahren über den Opernbetrieb schrieb, hat sich heute nicht viel geändert. Spricht Krenek von der zeitgenössischen Oper, so lässt sich das auf Werke ausdehnen, die scheinbar nur noch von historischem Interesse sind. Etwa die Barockopern Händels.

Opernbetrieb ist teuer und muss auf die Zahlen und damit das zahlende Publikum schauen. Davon wusste auch Händel ein Lied zu singen. Schließlich ging er nicht nur einmal mit seinen Opernunternehmungen baden. Händels Bühnenwerke verschwanden schon zu seinen Lebzeiten. Die ab den 1920er Jahren unternommenen Versuche, sie wieder im Repertoire zu verankern, blieben Episode. Zu fern sind heute Dramaturgie, Pathos und Affekte der Barockzeit. Umso mutiger ist Regisseur Igor Folwill bei der diesjährigen Solinger Eigeninszenierung - in bewährter Zusammenarbeit mit der Kölner Musikhochschule - mit Händels "Alcina" ans Werk gegangen. Ganz im Sinne der Eigeninszenierungen, nicht alleine im Altbewährten zu fischen. Mittwoch war Premiere im Theater.

"Alcina" ist bemerkenswert. Alleine schon, weil eine der besten Musiken Händels zu einer verschwurbelten Handlung erklingt. Die auf ursprünglich dreieinhalb Stunden aufgepumpte Geschichte lässt sich in drei Sätzen erzählen. Zauberin Alcina, Herrscherin über eine magische Insel, hat Ritter Ruggiero umgarnt. Dessen Braut Bradamante versucht, ihn zu befreien. Ruggiero muss sich zwischen Leidenschaft und Liebe entscheiden. Folwill entrümpelt und verschlankt. Aus der angestaubten Prunkoper wird ein auch ironisch gebrochenes Kammerspiel, zugeschnitten auf die Titelgestalt. Alcina scheitert in der Scheinwelt, Liebe durch Leidenschaft gewinnen zu können.

Für Stephanie Elliott wird die Alcina zur Paraderolle einer zerrissenen Gestalt. Einerseits sich lasziv auf dem Lotterbett räkelnd, gibt sie mit stimmlicher Eindringlichkeit etwa in den Arien "Dunkle Schatten" oder "Mir bleiben nur die Tränen noch" Einblick in eine zutiefst verwundete Seele. Den Macho-Lümmel Ruggiero gibt Lisa Wedekind, die mit sängerischer Brillanz aus dem Gefühlssumpf findet. Nicht nur stimmlich temperamentvoll betritt Patricia Nolz (Bradamente) in Ledernackenuniform und -manier die Bühne, um den Liebsten rauszuhauen. Ihnen zur Seite stehen Jana Marie Gropp als nicht nur in ihrem Silberkostüm außerirdisch kess und erotisch auftrumpfende Morgana oder Henning Jendritza als ihr verschmähter Liebhaber Oronte. Lucas Singer oder Anna Christin Sayn rundeten das Ensemble buchstäblich stimmig ab.

Ironisch gibt sich auch der Theaterchor. Eigentlich sollte es bei der gothicmäßig ausstaffierten Partygesellschaft im Zauberreich krachen. Aber verhext gelähmt wird der besungene "Himmel der Freuden" zu dem, was er ist: hohler Schein. So auch das Bühnenbild: Hohe Vorhänge mauern die Protagonisten ein. Einzig Bewegtes sind die Projektionen von Iris Holstein, die Südseeatmosphäre schaffen. Die roten Kussmünder mutieren aber zu fleischfressenden Pflanzen.

Generalmusikdirektor Peter Kuhn und die klein besetzten Bergischen Symphoniker weben Händels raffinierten Klangteppich mit Fingerspitzengefühl und musikdramatischem Einfühlungsvermögen.

(cmr)
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