Solingen Heute zählen nur noch Totenlisten mit sechs Nullen

Solingen · Das Solinger Ensemble Profan zeigt im Theater eine Inszenierung von "Draußen vor der Tür" von Wolfgang Borchert.

 Uwe Dahlhaus (l.) und Markus Henning spielen Borchert.

Uwe Dahlhaus (l.) und Markus Henning spielen Borchert.

Foto: Profan/Stephan Haeger

Auch mehr als 70 Jahre nach Kriegsende wühlt Wolfgang Borcherts autobiografisch geprägte Geschichte um den Kriegsheimkehrer Beckmann auf. 1946 hatte der 26-jährige Borchert, gerade selbst aus russischer Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt, sein Drama "Draußen vor der Tür" in wenigen Tagen niedergeschrieben. Es erzählt vom Kriegsheimkehrer Beckmann, der als Soldat in den Schlachten um Stalingrad nicht nur seinen Vornamen eingebüßt hat - und der sich als verwundeter Kriegsveteran nicht mehr in die bundesrepublikanische Nachkriegs- und Wiederaufbaugesellschaft integrieren kann. Alle Türen zurück in ein normales Leben scheinen ihm verschlossen. Zu heftig sind die Verwüstungen des Krieges in seiner Seele, die Alpträume und die Toten, die ihn heimsuchen, die Schuld, die ihn niederdrückt.

Dieses Drama der sogenannten Trümmerliteratur hat das Ensemble Profan jetzt wieder als Neuinszenierung auf den Spielplan gesetzt - nachdem die Gruppe es bereits vor 30 Jahren gespielt hatte. "Damals", so Regisseur Michael Tesch, "haben wir versucht, alles realistisch zu zeigen. Jetzt gehen wir da abstrakter ran."

"Draußen vor der Tür" beschreibt nicht nur die historisch konkrete Nachkriegssituation Deutschlands nach dem 2. Weltkrieg. In der Literaturwissenschaft gilt das Stück als das Antikriegsstück schlechthin. "Solange es Kriege gibt, ist dieses Stück aktuell," begründet Michael Tesch die Wahl des Stückes. Wie vermittelt das Ensemble Profan diese universale Dimension, diese zeitlose Allgemeingültigkeit oder vielleicht sogar drängende Aktualität in der aktuellen Inszenierung? Die Bühne umreißt den Ort des Geschehens. Es ist kein realer Ort, eher ein fiktiver Raum: ein Steg, eine brückenartige Metallkonstruktion, eine Treppe. Allein die Videoprojektion einer kriegszerstörten Stadt und ein Hans Albers Song verweisen auf Hamburg und die Elbe.

In fünf Szenen erzählt das Bühnenstück das Leiden Beckmanns an der Welt, die durch den Krieg ihre Unschuld verloren hat, diese Erfahrung aber verdrängt und zur Tagesordnung übergeht. Die Szenen gehen unmittelbar ineinander über, der karge Bühnenraum bedarf kaum zusätzlicher Requisiten, ob es um das Treffen Beckmanns mit dem Oberst oder mit der allegorischen Figur der Elbe geht. Nur Licht und Akustik schaffen emotionale Breaks. Die Inszenierung arbeitet mit Musikeinspielungen bekannter Schlager von Hans Albers bis Freddy Quinn, mit packenden perkussiven Passagen. Immer wieder hört man, wie schwere Metalltüren mit ohrenbetäubendem Lärm ins Schloss fallen. Akustische Reize halten das Publikum in ständiger emotionaler Anspannung. Beckmann, grandios gespielt von Markus Henning, ist eine zerrissene Persönlichkeit, konfrontiert mit seinem Alter Ego, dem "Anderen" (gespielt von Alexander Riedel), schwankend zwischen Selbstmord, Hoffnung und totaler Verzweiflung. Henning füllt diese fast monologisierende Rolle intensiv aus. Und er überzeugt mit Mimik und Körpersprache in der Darstellung der grotesken Hauptfigur.

Insgesamt kann man dem Team des Ensemble Profan herausragende schauspielerische Leistungen attestieren. Die Elbe, gespielt von Renate Kemperdick, umgarnt und verstößt den Selbstmörder Beckmann. Auch Dajana Berkenkopf in der Rolle des Mädchens, das sich dem von Gott und der Gesellschaft verstoßenen Beckmann zuwendet, und Uwe Dahlhaus - in der Rolle des herablassend-sarkastischen Oberst - beeindrucken.

Unbedingt angemerkt sei, dass der Text von Wolfgang Borchert Passagen enthält, die geradezu zwingend aktuelle Kontexte heraufbeschwören. Krieg und Traumata kommen heute übers Mittelmeer. Und auch diese Verzweifelten wollen das gleiche wie Borcherts Protagonist: zurück in eine bürgerliche Welt. Nicht ausgeschlossen sein.

(RP)
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