Solingen "Einsamkeit ist die größte und schwierigste Krankheit im Alter"
Solingen · Franz Müntefering hat mit seinen 75 Jahren mehr als einmal erlebt, wie ein Mensch stirbt. "In meiner Kindheit im Sauerland bekam ich das Sterben in der Nachbarschaft mit", berichtet er aus der Zeit, als häufig noch mehrere Generationen einer Familie unter einem Dach lebten und die Alten zu Hause pflegten. Später als erwachsener Mensch sah er seine Eltern sterben, und 2007 legte er wegen der schweren Erkrankung seiner Frau, die im Jahr darauf verstarb, die Ämter als Vizekanzler und Bundesminister nieder. Im evangelischen Gemeindezentrum in der Ohligser Wittenbergstraße sprach Müntefering jetzt zum Thema "Sterben in dieser Zeit".
Heute seien die Familien im Gegensatz zu früher mobiler und wohnten "auseinandergezogen". Gleichzeitig lebten die Menschen länger als die Generationen vor ihnen. Während heute 4 Millionen Menschen über 80 Jahre alt seien, sei für das Jahr 2050 mit 10 bis 11 Millionen Alten zu rechnen. Grund für die stetige Verlängerung des Lebens sei auch die immer leistungsfähigere Medizin. Diese neige gelegentlich dazu, "mit immer noch einer Operation das Leben weiter verlängern zu wollen". "Manchmal fehlt bei der Medizin die Einsicht, dass man sterben lassen muss", sagt Müntefering. Dennoch sei das Sterben früher nicht leichter gewesen, wie er betont. Schon Anfang der 1990er Jahre setzte er sich als Gesundheitsminister in Nordrhein-Westfalen für die Einrichtung von Hospizen ein. In diese Zeit fiel auch die Etablierung der Palliativmedizin, erinnert sich Müntefering. Ihm war schon damals klar: "Wir brauchen Hilfe für die letzten Stunden des Lebens." Heute engagiert er sich als Stiftungsrat der Deutschen Hospiz- und Palliativstiftung.
Momentan entlassen Kliniken unheilbar Kranke aus Mangel an Hospizplätzen in der Regel nach Hause, fasst Müntefering die Situation zusammen. Er warnt jedoch davor, "Sterbebegleitung und Pflege zu Hause allein durch Angehörige bewältigen zu wollen". Dies stelle eine große Belastung für die Familien dar. Deshalb sei haupt- und ehrenamtliche Hilfe unverzichtbar.
Müntefering empfahl den Zuhörern, sich mit dem Thema Patientenverfügung zu befassen. Damit soll der Wille des Patienten auch dann berücksichtigt werden, wenn er sich selbst nicht mehr äußern kann. Ebenso wichtig sei es, mit einer Vorsorgevollmacht zu regeln, welcher Angehörige im Zweifelsfall die Entscheidung über eine medizinische Behandlung trifft.
Ein stark vernachlässigter Aspekt sei, so Müntefering, das Thema Alterspsychiatrie. "Einsamkeit ist die größte und schwierigste Krankheit im Alter". Denn Menschen, die allein seien, seien in ihrem Lebensmut am stärksten gefährdet.
Er fordert deshalb: "Wir müssen mehr auf unsere Mitmenschen achtgeben."