Solingen Die Nacht, die Solingen veränderte

Solingen · Der 29. Mai 1993 hätte ein normaler Samstag werden können. Pfingsten stand vor der Tür. Viele Solinger waren weggefahren oder saßen bis spätabends in Biergärten. Doch die Normalität dauerte an diesem Tag gerade eine Stunde und 42 Minuten. Danach war in der Stadt kaum noch etwas wie zuvor.

Am 29. Mai 1993 um 1.42 Uhr zündeten Neonazis das Haus der türkischen Familie Genç an der Unteren Wernerstraße an. Fünf Mädchen und Frauen kamen in den Flammen qualvoll ums Leben. 15 andere Menschen erlitten zum Teil schwerste Verletzungen. Und Solingen erlebte in den Tagen nach den Morden schlimme Ausschreitungen. Die Stadt wurde — zu Unrecht — als rechte Hochburg gebrandmarkt.

 Mevlüde Genç, ihr Mann Durmus und Solings Oberbürgermeister Norbert Feith (l.) bei der Gedenkstunde.

Mevlüde Genç, ihr Mann Durmus und Solings Oberbürgermeister Norbert Feith (l.) bei der Gedenkstunde.

Foto: dpa, obe fpt

Heute jährt sich der Brandanschlag zum 20. Mal. Zur Gedenkfeier wird unter anderem der türkische Vize-Premier Bekir Bozag erwartet. Bereits am Dienstag zogen Hunderte bei einem Mahngang zu der Stelle, an der früher das Haus der Gençs stand. Die Menschen gingen zu dem Ort, an dem die Mörder eine Wunde rissen, die weiter nicht verheilt ist, ja: nicht heilen kann. Denn aller Fortschritte zum Trotz: Das Verhältnis von Deutschen und Türken in Solingen ist bis heute besonders, manchmal auch besonders schwierig.

Das wird immer dann klar, wenn über die Gençs Lügen verbreitet werden, wenn Verschwörungstheorien die Runde machen. Oder wenn einige Mevlüde Genç mangelnde Integration vorwerfen, weil sie kaum Deutsch spricht.

Dabei hat gerade Mevlüde Genç viel für Integration getan. Sie ruft stets zu Versöhnung. Zweitens aber kümmerte sich die Mehrheitsgesellschaft viele Jahre gerade um Türkinnen nur unzureichend — und hat so Mitverantwortung, wenn türkische Frauen und Mädchen auch heutenoch teilweise schlecht integriert sind.

Dies ist gewiss nicht nur in Solingen so. Und zum Glück hat inzwischen ein Umdenken eingesetzt. Doch gerade in der Klingenstadt war die Distanz, bestenfalls Gleichgültigkeit, mit der sich Deutsche und Türken begegnen, fatal. Denn hier spielten sich nach dem Anschlag auch Gruppen als Vertreter der türkischen Community auf (und werden bisweilen auch als solche akzeptiert), die Integration nicht wollen. Die es darauf anlegen, Mädchen und Frauen ihre Rechte zu verweigern. An diesem Punkt sind die Türken in der Pflicht, sich klar zu distanzieren.

Die Arbeit in der Integrationsstadt Solingen muss also weiter gehen. Es ist nötig, Initiativen zu stärken, die wirklich für Integration kämpfen. Es gibt sie schließlich schon lange in Solingen.

Das jüngste Opfer des Brandanschlags war gerade zwei Jahre. Es wäre heute eine junge Frau, die das Leben noch vor sich hätte. Das Andenken an sie und an die anderen Opfer wird auch durch offizielle Feiern wie heute bewahrt. Darum ist es gut und wichtig, dass sich die Stadt erinnert. Aber es reicht nicht.

Wer zum Beispiel den türkischen Nationalisten oder Islamisten den Boden entziehen will, muss auch laut widersprechen, wenn irgendwer mal wieder Lügen über den Anschlag verbreitet oder die Mörder als "Opfer" darstellt. Das ist die deutsche Bringschuld.

Nur wenn das geschieht, hätte sich am Ende auch etwas zum Besseren verändert.

(RP/ac/jco)
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