Solingen Die Klänge eines Vergessenen

Solingen · Was wäre wenn? Die Frage stellt man sich ja gerne einmal. Auch wenn man weiß, dass sie müßig ist. Was wäre, wenn Franz Schubert nicht im Alter von 31 Jahren gestorben wäre. Was hätte er noch alles schaffen können? Was wäre, wenn es Richard Wagner in diesem Alter dahingerafft hätte? Gerademal sein "Fliegender Holländer" wäre fertig geworden. In beiden Fällen hätte die Musikgeschichte einen anderen Verlauf genommen.

Das könnte auch für die Neue Musik gelten, wenn der Komponist Erwin Schulhoff nicht 1942 in einem KZ in Bayern an Krankheit und Hunger gestorben wäre. Sein Streichquartett Nr. 1 aus dem Jahr 1924 erklang im 3. Kammerkonzert der Bergischen Symphoniker Sonntagabend im Kunstmuseum in Gräfrath.

Einen besseren Ort hätte man nicht wählen können. Wird doch hier dokumentiert, wie die Nazis versucht haben, bildende Kunst und Literatur zu beeinflussen, unliebsame Maler und Schriftsteller zu verbieten, zu verfolgen, zu ermorden — und letztlich vergessen zu lassen. Der Komponist Schulhoff ist hier also gut aufgehoben. Mit seinem Einsatz für Schönberg und seine Schule sowie für den Jazz hatte der gebürtige Prager keine großen Chancen beim NS-Regime. Und als Jude schon gar nicht. Was mit ihm verloren gegangen ist, bezeugte sein 1. Streichquartett.

Beeindruckend durchmaßen die Musiker das dicht gewobene und vielgestaltige Werk: Rina Yamada (1. Violine), Shino Nakai (2. Violine), Johanna Seffen (Viola) und Matthias Wehmer (Cello). Aus dem Unisono heraus entfalteten die Musiker energisch den fast brutal dahinrauschenden 1. Satz: kurz, aber heftig. Die Blicke der Zuhörer mögen auf die Bilder hinter den Künstlern gewandert sein. Ebenso expressionistisch wie die Musik sind die Gemälde von Valentin Nagel, der von den Nazis verfolgt, ebenfalls 1942 starb. Mal zart, mal grotesk gespenstisch und mit der Bratsche im Mittelpunkt leitete der 2. Satz zu einem mit Ironie überzogenen Folklore-Allegro über, bevor dann im Finale die vier Streicher romantische Klänge durch die herbe Melancholie durchschimmern ließen, die zum Schluss geheimnisvoll entschwebte.

Nicht nur Romantik und Folkloreanklänge verwiesen auf den folgenden Komponisten: Der 1894 geborene Schulhoff wurde als Zehnjähriger auf Empfehlung von Antonin Dvorak am Prager Konservatorium aufgenommen. Dvoraks Streichquartett d-Moll op. 34 war Abschluss des eindrucksvollen Konzertes. Buchstäblich mit Fingerspitzengefühl gestalteten die Musiker die Schwermut, die sich aus der für den Komponisten typisch kreisenden Motivik entwickelt und im Anfangssatz zu leidenschaftlichen Ausbrüchen führt.

Die nächsten Sätze bildeten den Kontrast mit böhmisch-tänzerischen Einwürfen und einem sensibel und klangschön schwebenden Adagio. Die herausgearbeitete herbe Strenge unter der munteren Oberfläche des Finales schloss den Kreis zu Schulhoffs Quartett.

Betreten aber haben die vier Musiker aus den Reihen der Bergischen Symphoniker das "Böhmische Impressionen" betitelte Konzert von Osten her. Drei Stücke aus den fünf Novelletten op. 15 von Alexander Glasunow wurden zu einer farbig gestalteten kleinen Suite zusammengestellt, die den Abend für ein dankbares Publikum eröffnete.

(RP)
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