Brandanschlag vor 30 Jahren in Solingen Trauer, Wut, Krawall und Zerstörungen

Solingen · Am 29. Mai 1993 haben Rechtsextreme einen Brandanschlag auf das Haus einer türkischen Familie in Solingen verübt. Den Großeinsatz der Feuerwehr und die Tage danach hat Uwe Vetter als Berichterstatter erlebt. Ein persönlicher Rückblick.

 In den Tagen nach dem Brandanschlag vom 29. Mai 1993 bekundeten türkische und deutsche Bürger ihr Entsetzen vor dem Haus an der Unteren Wernerstraße.

In den Tagen nach dem Brandanschlag vom 29. Mai 1993 bekundeten türkische und deutsche Bürger ihr Entsetzen vor dem Haus an der Unteren Wernerstraße.

Foto: dpa/Roland Scheidemann

Am Abend war ich mit Freunden beim Italiener in Ohligs. Wir ließen uns Pizza und Pasta schmecken. Und ich hoffte darauf, ein ruhiges Pfingstwochenende verbringen zu können. Gleichwohl war die Freude nicht ungetrübt. Als diensthabender Redakteur weiß man, dass an einem langen Wochenende viel passieren kann – und dies entsprechend für die Dienstagausgabe, 1. Juni 1993, aufgearbeitet werden muss.

Schon in der Nacht auf Samstag, 29. Mai, überschlugen sich die Ereignisse. In der Feuerwehr-Leitstelle gingen weit mehr als 20 Anrufe um kurz nach 1.30 Uhr zum Brand eines Hauses an der Unteren Wernerstraße mit Gefahr für Menschenleben ein. Ein Kollege, der mit Bekannten der Freiwilligen Feuerwehr beim Walder Pfingsttreff feierte, bekam die Alarmierung der Einsatzkräfte mit und informierte sofort auch den damaligen Morgenpost-Fotografen Martin Kempner. „Über meinen Piepser wurde ich informiert", erinnert dieser sich. „Handys hatten wir damals ja noch nicht".

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Foto: dpa/Bernd von Jutrczenka

Haus der Familie Genç in Flammen

Vor Ort an der Unteren Wernerstraße bot sich dem Fotografen ein grausames Bild – das brennende Haus der Familie Genç. Martin Kempner „schoss" Fotos, die um die Welt gingen. Zumal er das journalistische Privileg hatte, in jener Schicksalsnacht als erster Fotograf vor Ort zu sein. Was er zu diesem Zeitpunkt nicht wusste: Fünf türkische Menschen ließen in den Flammen ihr Leben: zwei junge Frauen und drei Mädchen.

Von einem fremdenfeindlichen Anschlag war zunächst nicht die Rede. Doch schon wenige Stunden später, am Vormittag des 30. Mai 1993, verdichtete sich dieses Gerücht. Die Schweizer Straße, die zum Tatort führt und Blick auf das niedergebrannte Haus Untere Wernerstraße 81 bot, war mit Journalisten und Passanten überfüllt. Am frühen Morgen hatte die Generalbundesanwaltschaft die Leitung der Ermittlungen übernommen. Presse-Agenturen waren mit ihrer Berichterstattung im Dauereinsatz und sorgten wie Radio- und Fernseh-Teams für die Verbreitung immer wieder neuer Informationen, ebenso die Redakteure der Solinger Morgenpost / Rheinische Post, die sich vor Ort ablösten.

So berichtete unsere Redaktion auf der Titelseite über den rechtsextrem motivierten Anschlag.

So berichtete unsere Redaktion auf der Titelseite über den rechtsextrem motivierten Anschlag.

Foto: Rheinische Post

Kurz zuvor Anschlag in Mölln

„Noch schlimmer als in Mölln", entfuhr es der damaligen Bürgermeisterin und SPD-Landtagsabgeordneten Erika Rothstein, als ich sie auf der Schweizer Straße traf. Eine Aussage, die mir in Erinnerung blieb. Wenige Monate zuvor, im November 1992, hatten in Mölln Neonazis Brandsätze in zwei von türkischen Familien bewohnte Häuser geworfen. Drei Tote und neun Schwerverletzte waren dort zu beklagen.

Trauer, Entsetzen, Fassungslosigkeit, aber auch Beschimpfungen gegen Politiker: Die Schweizer Straße entwickelte sich in den Tagen nach dem Brand zu einer Art Pilgerstätte – mit Blick auf die Ruine mit den schwarz gen Himmel ragenden Dachsparren. Für mich als Berichterstatter stellte sich nicht nur unmittelbar nach dem fürchterlichen Brandanschlag, sondern auch Jahre danach die Frage, wie bei jungen Leuten solch ein Hass entstehen konnte, um anderen Menschen derartiges Leid zuzufügen. Eine Antwort darauf habe ich bis heute nicht gefunden.

Auf den Anschlag folgten Straßenschlachten

Der Anschlag veränderte die Stadt. Straßenschlachten in der Innenstadt waren an der Tagesordnung. Gezielt wurden Geschäfte geplündert. Geschäftsinhaber versuchten, mit Spanplatten ihre Auslagen abzusichern. Flaschen und Steine wurden aber auch auf Polizisten geworfen. Randalierer insbesondere von außerhalb nutzten Solingen zur Bühne für ihre Krawall-Kundgebungen.

Auch das Rathaus an der Cronenberger Straße blieb nicht verschont. 75 Glasscheiben wurden hier eingeworfen. Auf Halbmast aufgezogene Fahnen mit Trauerflor, zum Gedenken an die Opfer des Brandanschlags angebracht – auch vor ihnen machten die Randalierer nicht Halt: Die Fahnen wurden nachts heruntergerissen und verbrannt.

Oberbürgermeister stellte sich dem Mob

In fester Erinnerung an die Vorgänge von vor 25 Jahren bleibt Gerd Kaimer. Der langjährige Oberbürgermeister war wie viele andere Solinger entsetzt und fassungslos über das, was nachts auf den Straßen passierte. Gleichwohl stellte sich Kaimer unerschrocken dem Mob: Auf der Kreuzung Schlagbaum versuchte Kaimer die Gemüter der Demonstranten zu beruhigen. Über Megaphon sprach er zu der wütenden Menge, um sie zu beschwichtigen. Ich war mittendrin, bewunderte seinen Mut und hoffte gleichzeitig, sein Appell möge Früchte tragen.

Tat er aber nicht, denn die Krawalle und Zerstörungen gingen an den Folgetagen weiter. Und auch der von vielen geschätzte und geachtete Gerd Kaimer musste einsehen, dass Appelle allein zwecklos sind.

30. Jahrestag

Wenn am Pfingstmontag beim 30. Jahrestag des Brandanschlages mit zahlreichen Veranstaltungen an die Tat von damals erinnert wird, leben in Solingen Betroffenheit, Entsetzen und Fassungslosigkeit wieder auf. Für die Sicherheitskräfte wird dieser Gedenktag nicht nur rund um das Mahnmal an der Beethovenstraße oder an der Unteren Wernerstraße ein Großeinsatz verbunden sein.

Eine Unsicherheit ist nach wie vor vorhanden. Zumal Fremdenfeindlichkeit und Rassismus auch in Solingen längst nicht überwunden sind.

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