Hunderte Menschen bei Solinger Trauergottesdienst „Wir suchen Gemeinschaft und Beistand“
Solingen · Solingen steht nach dem Messerangriff auf seinem Stadtfest unter Schock. Am Sonntagmorgen trauern die Einwohner gemeinsam bei einem Gottesdienst – der eigentlich mal anders geplant war.
Bevor sie das Gotteshaus über die Treppe zum „Café Gloria“ betraten, machten die Besucher vor dem darunterliegenden bunten Beet Halt – das, inzwischen beinahe gespenstisch anmutend, auf den 650. Geburtstag der Stadt Solingen verweist. Für einige beklommene Momente verharrten viele vor den roten Grablichtern, Blumen und auf ein Banner geschriebenen Botschaften, die Mitbürger an diesem Ort hinterlassen haben.
„Gegen Hass und Gewalt“ war eine davon. „Gemeinsam sind wir stark“ – in ein Herz eingerahmt – eine andere. „Du bist nicht allein“ stand als zentraler Satz über den vielen kleinen Texten. Auf einem Schild stießen die Beobachter zudem auf die Frage, die sich in den letzten Tagen offensichtlich sehr viele Menschen stellten: „Warum ?“
Der Suche nach Antworten und Halt widmete sich auch der ökumenische Gottesdienst am Sonntagmorgen in der evangelischen Stadtkirche am Fronhof – wenige Meter entfernt vom noch immer abgesperrten Ort des grausamen Anschlags. Eigentlich hätten Mitglieder verschiedener Konfessionen hier feierlich den dritten Tag des großen Stadtjubiläums einläuten sollen. Daraus wurde nun ein Trauergottesdienst.
Hunderte Menschen strömten in die Kirche, Helfer richteten zusätzliche Stuhlreihen ein, viele Besucher blieben stehen. Bekannte umarmten sich zum Teil mit Tränen in den Augen, viele waren während des Gottesdienstes in sich versunken. „Wir spüren in diesen Tagen unsere Hilflosigkeit und unsere Ohnmacht“, sagte Pfarrerin Friederike Höroldt – und fügte hinzu: „Wir suchen aber Gemeinschaft. Wir suchen Beistand. Und deswegen kommen wir hier zusammen.“ Zugleich bekräftigte sie: „Diese Kirche ist heute ein Schutzraum für Trauer und Gefühle.“
Anstelle eines festlichen Auftakts rückte der Psalm 130 mit den um Hilfe flehenden Worten „Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu Dir.“ „Wie sollen wir es fassen, was nicht zu fassen ist?“ fragte eines der nachdenklichen Lieder, die Besucher und Chöre gemeinsam anstimmten.
Fragen stellte auch Superintendentin Dr. Ilka Werner in ihrer Predigt: „Wo bist Du, Mensch?“ und „Wo ist Dein Bruder Abel?“ zitierte sie entscheidende Aussprüche Gottes aus dem 1. Buch Mose, in der bereits die ersten Abgründe menschlichen Daseins – bis hin zum Mord am eigenen Bruder – zutage treten. „Schon bei den Ersten ging so vieles schief“, kommentierte Werner die ausgesuchten Bibelstellen.
„Wo bist Du?“ hätten auch viele Besucher des Festivals der Vielfalt am Freitagabend in angstverfüllten Telefonaten ihre Verwandten und Freunde gefragt, die sich gerade anderswo auf dem weitläufigen Areal in der Innenstadt aufhielten. „Mensch, was bist Du für einer?“ münzte Werner die Frage auch um auf den Solinger Attentäter – und fügte hinzu: „Was bedeutet das alles?“
Auf eine Aussage zu den vielberichteten Hintergründen des am Samstagabend festgenommenen Tatverdächtigen und seine mutmaßlich islamistische Motivation verzichtete die Superintendentin. Vielmehr griff sie im Angesicht der sinnlosen Todesopfer und Verletzten die nach derartigen Tragödien oft gestellte Theodizee-Frage auf: „Wo bist Du, Gott?“
Ursprünglich sollten Menschen aus der Stadtgesellschaft im Zuge des ökumenischen Gottesdienstes Fürbitten mit ihren Wünschen für das „Geburtstagskind“, die Stadt Solingen, vortragen. Diese Wünsche hätten zwar weiterhin Bestand, betonte Stadtdechant Pfarrer Michael Mohr. Zum Vortrag kamen sie jedoch am Sonntag nicht. Stattdessen entzündeten alle, die eine Fürbitte vorbereitet hatten, eine Kerze als Zeichen des stillen Gebets an.
Still und besinnlich schloss auch der Gottesdienst, nach dem die Gäste die Kirche wiederum in aller Ruhe über das Café Gloria verließen. Dort standen erneut Notfallseelsorger für Gespräche mit Angehörigen oder Zeugen des Anschlags zur Verfügung.
Am späten Samstagabend war ein 26 Jahre alter Syrer festgenommen worden. Die Bundesanwaltschaft ermittelt gegen ihn wegen Mordes und wegen des Verdachts der Mitgliedschaft in der Terrormiliz Islamischer Staat (IS).