„Band Campus“ am Niederrhein für Musiker ab 40 Eine Oase für spätberufene Rock ’n’ Roller

Niederrhein · Musikpädagoge und Profi-Musiker Pierre Disko aus Moers ist mit seinem Projekt „Band Campus“ in der Region erfolgreich. Er coacht Ü40-Bands. Die Teilnehmer kommen aus Kleve und Krefeld, aus Essen und Wachtendonk, aus Neuss, Duisburg und Rheinberg. Ihnen ist offenbar kein Weg zu weit.

Pierre Disko (vorne) mit Sängerin Daniela Matschulat (v.l.), Gitarrist Dieter Wagner, Gitarristin Sigrid Mölders und Bassist Jürgen Meseck aus der Band 3 beim Proben im Sing-Sing-Studio in Rheinhausen.

Pierre Disko (vorne) mit Sängerin Daniela Matschulat (v.l.), Gitarrist Dieter Wagner, Gitarristin Sigrid Mölders und Bassist Jürgen Meseck aus der Band 3 beim Proben im Sing-Sing-Studio in Rheinhausen.

Foto: Uwe Plien

Dieter Wagner ist 71 und hat mit Kokain nichts am Kopf. Aber das Gitarrensolo im Song „Cocaine“ von J.J. Cale, das bringt ihn mehr auf Touren als jede Partydroge. Er dreht die Lautstärkeregler seiner Fender Stratocaster hoch, bis der Sound verzerrt und es so richtig rockt. Dieter Wagner muss sich konzentrieren und wenn er beim Spielen da so auf seinem Stuhl sitzt, spürt man, dass seine Finger nicht immer so wollen wie er. Aber er haut sich rein, hat viel geübt, bis die Finger schmerzten, und das Solo klingt astrein. Wagner lächelt. Die anderen Bandmitglieder würden wohl gerne applaudieren, wenn sie sich nicht selbst darauf konzentrieren müssten, E-Gitarre, Bass, Schlagzeug oder Keyboarsds zu spielen oder zu singen. Sie alle sind Anfänger, haben mit Ausnahme des Drummers noch nie in einer Band gespielt und haben bisher zu Hause allein für sich auf ihren Instrumenten herumgedudelt oder in der Dusche gesungen. Aber sie alle hatten den gleichen Wunsch: einmal in einer echten Rockband zu spielen.

Wir sind in den Sing-Sing-Studios in Duisburg-Rheinhausen. Dimitri Ulshteyn und Nikolei Sapounov vermieten dort in einem Gewerbegebiet Probenräume. Auch Pierre Disko hat Räume angemietet. Der 56-jährige Moerser ist Profimusiker und ein erfahrener Musiklehrer. Nach seinem Studium der Jazz-Gitarre in den Niederlanden hat er rund 25 Jahre an der Moerser Musikschule unterrichtet und war mit Bands unterwegs, bevor er sich mit einer eigenen Musikschule selbstständig gemacht hat. Jetzt spielt sein Leben auf dem Band Campus. Mit dieser Idee trifft Disko (das ist kein Künstlername) den Nagel auf den Kopf: Er stellt Ü-40-Bands zusammen und coacht sie. Eine Rock’n’Roll-Oase für spätberufene Menschen, die das Reiheneckhaus abbezahlt haben und deren Kinder erwachsen sind und vielleicht zum Studieren weggezogen sind. Leute also, die sich in einer Lebensphase befinden, in der man sich Träume verwirklicht.

 Dieter Wagner (ganz links) ist 71 Jahre alt und kommt extra aus Kleve zu den Proben. Sigrid Mölders (62) und Jürgen Meseck (69) sind aus Duisburg.

Dieter Wagner (ganz links) ist 71 Jahre alt und kommt extra aus Kleve zu den Proben. Sigrid Mölders (62) und Jürgen Meseck (69) sind aus Duisburg.

Foto: Uwe Plien

Manche bestellen sich ein Wohnmobil oder machen Kreuzfahrten in der Karibik, andere kaufen sich einen E-Bass und einen Verstärker, covern Songs aus ihrer Jugend und fiebern dem ersten Gig vor Publikum entgegen. Zusammen mit Leuten, denen es ganz genauso geht. „Ich bin total überwältigt vom Erfolg dieses Band-Projekts“, erzählt Pierre Disko. „Ich denke, dass Band Campus von großer gesellschaftlicher Relevanz ist. Heute sind die Menschen neben dem Beruf bis ins hohe Alter aktiv. Der Traum, eine eigene Band zu haben, ist bei vielen riesengroß.“

Vier Bands proben bereits regelmäßig unter der Anleitung von Disko in Sing Sing, Band fünf und sechs werden in den nächsten Wochen zusammengestellt. Dass noch weitere hinzukommen ist nur eine Frage der Zeit. Pierre Disko hat da eindeutig eine Marktlücke aufgetan. Wer zuschaut und zuhört, stellt schnell fest: Die Proben machen nicht nur den Nachwuchsmusikern im fortgeschrittenen Alter, sondern auch dem Bandleader einen Riesenspaß. Es wird herumgeflachst, es wird gelacht, aber auch ernsthaft und selbstkritisch an den Songs gearbeitet.

 Lachen erlaubt: Coach Pierre Disko (hier mit Drummer Peter Waldhausen) spielt bei den Proben selbst mit und geht es ganz entspannt an. 

Lachen erlaubt: Coach Pierre Disko (hier mit Drummer Peter Waldhausen) spielt bei den Proben selbst mit und geht es ganz entspannt an. 

Foto: Uwe Plien

Dann hört alles auf die Kommandos von Pierre Disko, der sich selbst eine Fender umgehängt hat und mitspielt: der Hochschulprofessor, die Sonderschullehrerin, der Unternehmer, der Facharzt und die IT-Expertin. Eine Band ist wie eine zweite Familie, und so interessiert es hier niemanden, wer wie viel Geld verdient, wer im Job 150 Leute unter sich hat oder wer gerade arbeitslos geworden ist. Es geht nur um die Musik, um den Song, um den Sound und um das Rock’n’Roll-Feeling.

Band 3, so heißt das Ensemble, das sich erst Ende vergangenen Jahres zusammengefunden hat. Und „Cocaine“ ist einer der Songs, der allen in der Gruppe gefallen hat. Es werden Vorschläge gemacht und dann wird darüber abgestimmt. Die Stücke, die die meisten Punkte bekommen, schaffen es auf die Setlist.

Dieter Wagner kommt aus Kleve zu den Proben gefahren, der 71-Jährige nimmt zwei Stunden Autofahrt in Kauf. „Ich habe noch nie in einer Band gespielt“, sagt der Altrocker. Bei Facebook sei er auf Band Campus aufmerksam geworden und habe nur gedacht: „Das ist mein Ding.“ Sigrid Mölders (62) lebt in Duisburg. Sie hat mal bei Pierre Disko eine Gitarre reparieren lassen. Dabei hat sie von den Bands für Menschen ab 50 erfahren. „Ich hatte echt keine Lust mehr, immer nur alleine zu spielen“, erzählt sie. Jetzt kann sie ihre Gretsch-Gitarre endlich mal im Band-Kontext einsetzen.

Jürgen Meseck ist 69 und wohnt als einziger um die Ecke, in Rheinhausen-Trompet. „Wenn ich meinen Bass nicht transportieren müsste, könnte ich mit dem Fahrrad fahren“, sagt er. Peter Waldhausen ist Krefelder. Dem 67-Jährigen passte es supergut in den Kram, dass sich die Band 3 nur alle 14 Tage trifft. „Ich verreise sehr viel“, berichtet er. „Und deshalb habe ich nicht jede Woche Zeit.“ Genau daran sei seine Karriere in einer Band, in der er mal getrommelt hat, gescheitert.

Sängerin Daniela Matschulat aus Duisburg ist mit 46 Jahren das Küken der Truppe. Auch sie genießt es, ihrer Musikalität als Spätstarterin freien Lauf zu lassen. Banderfahrung? Fehlanzeige, auch bei ihr. „Ich möchte auch mal Musik mit Leuten machen, die nicht Familie sind“, sagt sie.

Sie alle haben sich bei Pierre Disko gemeldet, der ihnen in langen Telefonaten auf den Zahn gefühlt hat, um herauszufinden, welchen Musikgeschmack sie haben und wo sie leistungsmäßig stehen. „In Testproben hat jeder mal mit jedem gespielt, bis ich ungefähr wusste, wer mit wem zusammenpasst“, erläutert Disko. Nun rollen die Musiker aus allen Himmelsrichtungen zur Probe an. Aus Essen, aus Neuss, aus Wachtendonk und aus Rheinberg. Für das späte Band-Glück ist ihnen kein Weg zu weit.

Der Mentor sorgt für ein Rundumwohlfühl-Gefühl seiner Schützlinge. Disko schickt ihnen Leadsheets, also Ablaufzettel für die Songs, organisiert die Proben und bereitet den Trainingsraum vor.

Beim Spielen der Stücke greift der Cheftrainer immer wieder mal ein. Bei ZZ Tops „Sharp Dressed Man“ hakt es noch an einer Stelle, Disko lässt sie mehrfach wiederholen. Sängerin Daniela ist an einer Stelle noch unsicher, hat aber kein Problem damit, diese kleine Schwäche einzugestehen. „Ich will ja was lernen“, betont sie. „Und in diesem Setting hier ist klar, wer den Hut aufhat.“ Drummer Peter drückt es so aus: „Der Souverän am Platze ist der Pierre.“ Und der hat es drauf, spielt oder singt der Band einzelne Passagen vor und findet immer die richtige Ansprache. Er selbst findet: „Meine Aufgabe ist es, ein joviales Beratungsgespräch zu führen.“ Dann sagt er, ganz Motivator, zu den beiden gut aufeinander abgestimmten Gitarristen: „Was ist denn mit euch passiert? Kaum habe ich euch mal zwei Wochen nicht gesehen, schon seid ihr richtig gut.“ Und schon gehen die Mundwinkel nach oben.

Auch die Musiker und Musikerinnen in Band 4, die als nächstes proben, wissen den Band Campus zu schätzen. Allein schon, weil er sie zusammengeführt hat. „Wir sind keine 15 mehr und treffen andere Musiker nicht auf dem Schulhof“, bringt es Gitarrist Matthias auf den Punkt. Es ist es so ähnlich wie bei der Suche nach einem neuen Lebenspartner. „Wenn man 65 ist, fällt es einem nicht so leicht, auf eine Band zuzugehen und zu fragen: Kann ich bei euch mitspielen?“, sagt Matthias.

Band Campus macht nicht nur den Traum von der eigenen Band, sondern auch den vom ersten öffentlichen Auftritt möglich. Pierre Disko hat bereits das erste Band-Campus-Festival in Planung. Dann sollen alle seine Bands auf einer großen Bühne mit vielen Scheinwerfern und großer Anlage vor einem großen Publikum auftreten.

(up)
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