Alpen Als Ziegenköttel als Lakritz durchgingen

Menzelen · Fritz Nühlen (84) erzählt in der neuesten Schrift zur Dorfchronik in Menzelen in Versen von früher.

 Adolf van Bonn war von 1948 bis 1968 Bürgermeister in Menzelen.

Adolf van Bonn war von 1948 bis 1968 Bürgermeister in Menzelen.

Foto: NN

Es gab eine Zeit, die liegt so weit noch gar nicht zurück, da war so etwas wie Internet noch gar nicht denkbar. Es gab ja nicht mal Farbfernsehen. Und doch war das überschaubare dörfliche Leben in am Niederrhein bunt und grenzenlos unterhaltsam. Wer wissen wollte, was läuft, ging zum Frisör oder stellte sich an die Theke in einer der Dorfkneipen, von denen es früher noch eine ganze Menge gab. In Menzelen etwa die Gastwirtschaft „Zu den drei Kronen“. Die ist zwar Geschichte. Aber wer hier im Geiste bei einem guten Glas Bier Leute treffen möchte, die man heute echte Originale nennt, muss nur in Heft 10 der Schriften zur Dorfchronik schmökern. Schon ist man mittendrin im alltäglichen Treiben längst vergangener Tage. Heimatfreund Fritz Nühlen (84) erzählt die Dorfgeschichten(n) in Versform und vor allem, aber nicht nur, auf Platt. Das erhöht die Authentizität. Auch für junge Leute mit natürlicher Distanz zur Mundart lohnt es sich, Berührungsängste abzulegen.

Für Goethes Faust mögen Namen nur Schall und Rauch sein – für die „Lüj üt Menzelne“ erzählen sie eine ganze Menge. Wenn Fritz Nühlen reimt, werden „de Dicke Thei“ oder „Knupperts Liske“ wieder quicklebendig. Das fängt schon mit dem Titelbild an. Der respekable ältere Herr im schwarzen Gehrock, weißen Hemd mit Stehkragen und gebundener Krawatte, mit Taschenuhr, Hut und langer Pfeife heißt mit bürgerlichem Namen Hermann Aldenhoff. In Menzelen hat man ihn als „Schneijder Böörg“ in bester Erinnerung. Böörg war sehr beliebt im Dorf. Auch weil er so gutgläubig war und sich anbot, ihn auf den Arm zu nehmen. So taten’s die Jungs im benachbarten Garten, die ihm täuschend echt und vor allem live eine Radioreportage über Menzelen vorgegaukelt haben sollen. Und da ist Dr. Weißblech – weder Arzt noch Apotheker, sondern Klempnermeister Karl Großholtforth, ein Fachmann „dör on dör“. Als Rutengänger spürete den richtigen Standort für den Brunnen auf. Man sagt ihm nach, Erfinder der „Zehn-Stunden-Woche“ zu sein, der mehr Zeit an der Theke zubrachte als mit der Ausübung seines Handwerks.

 „Schneijder Böörg“ Aldenhoff

„Schneijder Böörg“ Aldenhoff

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Bilder zeigen ihn anno 1950, als er mit Dachdeckermeister Anton Karmann – von ihm ist kein Spitzname überliefert – dem Kirchturm von St. Walburgis in knapp 50 Metern Höhe auf einem schmalen Brettchen – ein kupfernes Dachkleid anlegt. Nach Feierarbeit ging’s zu „Kerste“, wo ein paar Schnäpskes die durstige Kehle runterrannen. Beliebt war die Wirtschaft „an de Kerk“. Da saßen sonntags nach dem Hochamt vornehmlich „de Buure, die meer as een Gedeck infuure“. Auch „Böchelzen Dölf“ war regelmäßig Gast bei Kerste. Schließlich war Adolf von Bonn nach dem Krieg Bürgermeister in Menzelen, bis das Dorf 1968 seine Eigenständigkeit aufgab und ein Teil von Alpen wurde. Da wurde der Mann vom Bernshuck-Hof zum Ehrenbüger ernannt. Menzelen sprach in der Großgemeinde weiter ein gewichtiges Wörtchen mit. Später eroberte „de Kampse Will“, alias Willi Jansen, den Bürgermeistersessel an der Rathausstraße.

Mann von Gewicht war „de Dicke Thei“, Wurstverkäufer wie aus dem Bilderbuch. Der launige Kerl mit Jägerhut und gestreiftem Metzger-Bois wird im Roman „Mädelsabend“ von Anne Gesthuysen erwähnt – verortet in Sonsbeck. Dabei ist er Ur-Menzeler. Hier hat er gelebt und hier ist er mit nicht mal 50 auch gestorben, wie der „Lokalreporter“ klarstellt. Es gäbe noch viel zu erzählen von „Kallas Tack“ oder „Mette Wupp“. 30 Spitznamen mit amtlicher Übersetzung zählt das Glossar der Typen, die Nühlen mit wissenschaftlicher Akrebie auflistet und so der Nachwelt überliefert.

 Der unvergessene Wurstverkäufer „De Dicke Thei“ war ein Ur-Menzelener. Er hat es sogar zur Romanfigur gebracht.

Der unvergessene Wurstverkäufer „De Dicke Thei“ war ein Ur-Menzelener. Er hat es sogar zur Romanfigur gebracht.

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Ein zweites Kapitel ist der Erinnerung an Kindertage gewidmet, als Jungs Ziegen vor Karren gespannt haben, im Winter mit Schlitten von Piepers Berg drei Meter tief in die Kull gejagt sind und alpine Gefühle aufkamen, brave Knaben als Old Shatterhand „von Apanatschi drömde“ und sich als „Siegfried üt Sante“ mit Schwert unschlagbar vorkamen, zu Haus „ok ass een Schnäpske lölle on met water de Fläsch opfölle“. Lausbuben waren nicht feige, Schafsköttel als Lakritz anzubieten. Von Gender keine Spur. Während die Jungs im Sommer in Grenzkull und Flöth abtauchten, „schwomme die Määdsches tüss in de Zenkebütt“, wie die schlichte Zinkbadewanne genannt wurde. Fußball gespielt wurde mit ’ner „Poggebloss“. Gefährlich war das Spiel mit explosiven Fundsachen aus Kriegstagen.

Ein Kapitel ist dem Adlersaal gewidmet, immer noch gesellschaftlicher Mittelpunkt im Dorf. Es war das Jahr 1912, als „Wupp“ Maas mit der Solvay im Anmarsch lukrative Geschäfte witterte: „Dat gew et omsatz und Monete.“ So baute Wupp den Adlersaal mit Tonnengebälk und tanzglattem Parkett und dazu eine Wirtschaft. Die Rechnung von Wirt Wupp ging auf. Aber nach dem Ersten Weltkrieg wurden die Geschäfte mau, der Herr über ein paar Bienenvölker verlegte sich auf die Produktion von Honig. Und auch aufs Schnapsbrennen verstand er sich. Nur gut, dass sein Helfer der „Domme Johann“ taubstumm war. So drang’s nicht zum Fiskus durch.

 Fritz Nühlen erzählt Dorfgeschichte(n) in Versform

Fritz Nühlen erzählt Dorfgeschichte(n) in Versform

Foto: NN

Als 1926 das Rheinhochwasser einen Meter hoch im Saal stand, war der Gründer am Ende. „Hein Kitz üt Sante“ übernahm den trudelnden Adler. Die Zeiten besserten sich, Ende der 20er Jahren kam die Kegelbahn dazu. Was der Klub „Bahn frei“ umwarf, stellte Kegeljunge Angenendt wieder auf. Kurze Zeit wurde im Saal auch scharf geschossen. Im Winter trainierten die Fußballer des SV Menzelen in Ermangelung einer Turnhalle im Adlersaal. Trainer war der legendäre „Held von Augsburg“. Der Weseler Ludwig Müller hatte 1958 im Rosenaustadion beim Länderkampf gegen die UdSSR die Rennen über 5000 und 10.000 Meter gewonnen und brachte nun die Kicker zum Keuchen. In den 80ern begann Ulii Evers’ Zeit im Traditionshaus. „Lischis, Mangos on olive“ ersetzten „Schmalt on Speck“, statt „Feste goov et Event-Gastronomie“ und Catering. Im Saal wurde der Himmel blau, moderne Zeiten in Menzelen. Die dauern an.

Und was wäre ein Rückblick ohne „Käärmes“. Das Fest, auf das sich das ganze Dorf das ganze Jahr gefreut hat. Dafür wurden selbst Schweineställe frisch gekälkt. Schließlich kamen oft zahlungskräftige „Göötante on Päteroome“ zu Besuch. Auf den Tisch kam mal was anderes als Papp, das Outfit für Manns- on Fraulüj musste „piko bello“ sein, parfümiert mit en paar Dröpkes 4711. Nach dem Hochamt und der Kirchweih-Prozession hieß es allenthalben nicht mehr Amen, sondern „Vööl Glöck op de Käärmes“.

Der reimende Chronist lässt es Hochdeutsch ausklingen und hält Rückschau auf die Zeit als Lokalreporter vom „Peddeboten“, dem nichts im Froschdorf verborgen blieb. Und erklärte als Lehrer Lämpel 1975 die Mengenlehre: „Es wird nicht mehr geteilt gezählt, nur noch aus Mengen ausgewählt – Eltern und Kinder sind geschockt, was ihnen von oben eingebrockt.“

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