Zeitzeuge aus Menzelen erinnert sich Die letzten Tage vor Kriegsende im Keller

Alpen · Fritz Nühlen war elf Jahre alt, als die Alliierten im März 1945 zum Rhein vorrückten. Seine Erinnerung an die dramatischen Stunden im Keller seines Elternhauses in Menzelen hat er aufgeschrieben. Die Erlebnisse vor 75 Jahren sind für den 86-Jährigen noch sehr lebendig.

 Als Familie Nühlen am 10. März 1945 das Haus verlassen musste, musste Fritz seinen treuen Freund, Spitz „Prinz“, zu Hause zurücklassen. 

Als Familie Nühlen am 10. März 1945 das Haus verlassen musste, musste Fritz seinen treuen Freund, Spitz „Prinz“, zu Hause zurücklassen. 

Foto: Nühlen/Repros bp

Die Tage Anfang März 1945 haben sich tief ins Gedächtnis von Fritz Nühlen (86) eingegraben. Sie klingen nach. Bis heute. „Die Schreie werde ich nie vergessen.“ Er war damals ein Junge von elf Jahren. Der Mann aus Menzelnen hat die Ereignisse „in der letzten Hauptkampflinie vor dem Rhein“, die das Ende des Zweiten Weltkrieges den Weg ebneten und sich jetzt zum 75. Mal jähren, in einem Aufsatz festgehalten, der im Jahrbuch des Kreises Wesel veröffentlicht worden ist. Ein wichtiges, sehr lebendiges Zeugnis. Er erzählt die Geschichte so:

Schon seit Wochen kündet von Westen Geschützdonner davon, dass die Front auf den Rhein und damit auch auf Menzelen vorrückt. Deutsche Soldaten deponieren Abwehrgeschütze in den Gärten, um die Häuser werden Schützengräben ausgehoben. Auch an Haus Nebzelen-Rill 191. Hier lebt der junge Fritz mit seinen Eltern Fritz senior und Agathe Nühlen, Schwester Leni und Bruder Ludwig sowie einer Tante.

 „Da ist ein Franzose im Garten, hinter dem Haus in einem kleinen Schutzbau. Bitte geht zu ihm, er kann Englisch, Französisch und Deutsch sprechen.“ Das hatte der Fremdarbeiter für die alliierten Soldaten auf Englisch auf einen Zettel geschrieben.

„Da ist ein Franzose im Garten, hinter dem Haus in einem kleinen Schutzbau. Bitte geht zu ihm, er kann Englisch, Französisch und Deutsch sprechen.“ Das hatte der Fremdarbeiter für die alliierten Soldaten auf Englisch auf einen Zettel geschrieben.

Foto: Nühlen/Repros bp

Die Familie hat Lebensmittelvorräte angelegt, Rucksäcke sind gepackt für den Fall, dass sie fliehen müssen. Auf der Wiese, 30 Meter weg vom Haus, ist ein Bunker angelegt. Doch Schutz sucht die Familie im Gewölbekeller. Die 14 Quadratmeter teilten sich die Nühlens mit deutschen Soldaten, die auf dem Rückzug hier Zuflucht gesucht hatten. Der kleine aus Holzpfählen gezimmerte Bunker, mit knapp einem Meter Erde bedeckt, bietet einem Franzosen einen nicht besonders sicheren Unterschlupf. Es handelt sich um Monsieu Roger Gallas Morteerf aus Seine et Marne, Fremdarbeiter in der Pflugfabrik Lemken. Dort arbeitet auch Fritz’ 13 Jahre älterer Bruder Ludwig, der sich mit dem Franzosen angefreundet hat. Als der verlegt werden soll, bringt Ludwig ihn mit nach Hause, um ihn dort zu verstecken.

Am Mittwoch, 7. März, nehmen die Alliierten die Häuser in Menzelen unter Artilleriebeschuss. Auch das Haus Rill 191 steht im Feuerhagel. „Die Frauen und ich haben uns im Keller auf den Boden gekniet und gebetet“, erzählt Fritz Nühlen. „Mit Decken überm Kopf gegen das unerträgliche Getöse.“ Das Inferno erlebt am Freitag, 9. März, seinen Höhepunkt. Ludwig bringt dem Freund im Bunker etwas zu essen, kann aber nicht zurück ins Haus, weil es unter Trommelfeuer liegt. Im Schützengarben hat ein MG-Trupp Stellung bezogen. Um 14 Uhr legen die anrückenden Allierten eine Feuerpause ein. Doch die Stille wird schon bald von Maschinengewehrsalven abgelöst. Alliierte Infanteristen sollten am Überqueren der Reichsstraße 57 gehindert werden. Deutsches MG-Feuer und gegnerisches Trommelfeuer wechseln sich ab.

Das Haus Nühlen – Wohnräume und Stallungen – wird gezielt unter Beschuss genommen. Die Angst im Keller ist unbeschreiblich. Jederzeit kann Feuer ausbrechen. Drei Giebelwände stürzen ein, geben den Angreifern den Blick frei auf den Kellerausgang, der Schutzraum aber hält stand. Um 18 Uhr spitzt sich die Lage zu. Ein Soldat robbt sich vom Nachbarhaus heran, ruft: „Panzer in 200 Metern Entfernung.“ Die deutschen Soldaten, die im Keller auf Kartoffelsäcken sitzen und Fotos von ihren Lieben in Händen halten, springen auf, wollen zu ihrer Panzerkanone im Garten. Vater Nühlen versucht, sie aufzuhalten. „Hat doch keinen Zweck mehr.“ Doch Pflichtgefühl oder Angst sind stärker als die Vernunft.

 Diese Aufnahme zeigt das Haus der Familie Nühlen im Jahr 1927. Zu der Zeit war Fritz Nühlen junior noch nicht geboren.

Diese Aufnahme zeigt das Haus der Familie Nühlen im Jahr 1927. Zu der Zeit war Fritz Nühlen junior noch nicht geboren.

Foto: Nühlen/Repros bp

Zwei Männer stürmen nach oben, werden getroffen. Ihre schmerzerfüllten Schreie dringen an die Ohren der Leute im Keller. Vater Nühlen, Sanitäter im Ersten Weltkrieg, wagt sich nach oben. Es bleibt, „wie durch ein Wunder“, ruhig. Zwei Männer sind tot, einer liegt schwer verwundet in der Küche. Mit vereinten Kräften holt man ihn runter. „Ich will heim ins Reich“, habe der Soldaten verzweifelt geschrien, schreibt Fritz Nühlen. Das brennt sich ein. An Verteidigung denkt da keiner mehr. Die deutschen Soldaten ziehen ab zum Rhein, ihren verwundeten Kameraden nehmen sie in einer Zeltplane mit. Was aus ihm geworden ist, weiß keiner.

Kurz vor Mitternacht steht ein deutscher Offizier im Keller. Mit vorgehaltener Pistole sucht er nach einem Fahnenflüchtigen. Der 16-Jährige hat sich unterm Bett der kranken Nachbarin verkrochen und überlebt die Nacht. Er wird von den Alliierten gefangen genommen. Hätte er im Keller gesessen, wäre Familie Nühlen wohl standrechtlich erschossen worden.

10. März: Am Morgen geht der Franzose mit einem weißen Bettlaken querfeldein den Befreiern entgegen. Familie Nühlen begräbt die Toten im Garten. Am 11. März geht’s zu Fuße zum Bahnhof Alpen. Der kleine Fritz muss seinen treuen Spielkameraden, den Spitz „Prinz“ zurücklassen. „Beim Abschied lugt er traurig aus dem zerschossenen Dach.“ Auch das Bild prägt sich ein. Seinen Freund hat er nie wieder gesehen. Auf einem Lkw kommt die Familie nach Kapellen, wird in einem Zelt untergebracht. Eltern und Fritz’ Geschwister gehen betteln, um nicht zu verhungern. „Doch der Krieg war für uns zu Ende.“

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