Korschenbroich Rettungsanker für "Wegwerfkinder" in Bolivien

Grevenbroich · Für zwei Monate ist Pater Josef Neuenhofer wieder in Deutschland, um Spenden für Straßenkinder in Bolivien zu sammeln. Im Redaktionsgespräch erläutert er, wieso seine Arbeit eine Last und eine Lust ist und warum er nie die Hoffnung verliert. 6000 Kinder erhalten zurzeit Hilfe.

 Pater Josef Neuenhofer (l.) hilft Straßenkindern in Bolivien. Zurzeit ist er in Deutschland – hier bei einer Sammelaktion am Samstag im Borussia-Park mit Vizepräsident Siegfried Söllner und Jürgen Hüsges (r.) .

Pater Josef Neuenhofer (l.) hilft Straßenkindern in Bolivien. Zurzeit ist er in Deutschland – hier bei einer Sammelaktion am Samstag im Borussia-Park mit Vizepräsident Siegfried Söllner und Jürgen Hüsges (r.) .

Foto: Dieter Wiechmann

Herr Neuenhofer, regelmäßig kommen Sie nach Deutschland, um Spenden zu sammeln. Wie lange sind Sie dieses Mal hier?

Neuenhofer Zwei Monate.

Während Sie von Termin zu Termin eilen?

Neuenhofer Ja, es sind 109 Veranstaltungen bei diesem Besuch. Aber insbesondere nach Gladbach komme ich sehr gerne. Ich bin ja hier geboren, das ist meine Heimat.

Ist das Spendensammeln nicht manchmal auch ein mühsamer Job?

Neuenhofer Das stimmt, an manchen Tagen besuche ich vier Veranstaltungen. Erst jüngst fragte ich eine Zugnachbarin, ob sie das gleiche Ziel hat, und bat sie, mich zu wecken, falls ich einschlafe. Ich bin ja inzwischen alt und hatte Angst, dass mir bei der warmen Luft die Augen zufallen. Teilweise lege ich mit einem Mietwagen mehr als 500 Kilometer am Tag zurück. Aber ich bin gerne bei den Menschen.

Begreifen Sie Ihre Arbeit also auch als eine Last?

Neuenhofer Als eine Last und eine Lust. Die Last besteht in der Schwere meiner Aufgabe. Deutsche können sich kaum vorstellen, wie Kinder in Bolivien leben. Wir sind behütet aufgewachsen. Das ganze häusliche und familiäre Umfeld fehlt den Straßenkindern dort. Sie gehören zu niemandem, sie alle sind verwundet. Man nennt sie "Wegwerfkinder". Man sagt ihnen, sie hätten keine Würde, keine Zukunft.

Die Kriminalität ist ein großes Problem ...

Neuenhofer Ja, die Kinder leben vom Betteln und Stehlen. Sie beginnen damit, kleine Dinge zu klauen, bis sie irgendwann in einer Gang landen und Autos aufbrechen. Andere verfallen den Drogen. Später kommen sie ins Gefängnis.

Wie vielen Kindern helfen Sie inzwischen?

Neuenhofer Ungefähr 6000. Wir haben sieben große Heime für unsere Jungen und Mädchen. Eine Einrichtung ist eigens für junge schwangere Frauen, die von ihren Eltern rausgeworfen worden sind. Darüber hinaus führen wir mehrere Kinderkrippen.

Wie alt sind die Kinder?

Neuenhofer Wir fangen mit sechs Jahren an. Wir haben keine Säuglingsstation. Manche Kinder sind aber auch vier oder fünf Jahre alt.

Wie helfen Sie ihnen denn?

Neuenhofer Unser Ziel ist es, ihnen nicht nur das tägliche Brot zu geben, sondern auch eine Perspektive für die Zukunft. Sie können bei uns etwa Bäcker, Schlosser, Friseur, Schreiner oder Büroangestellter werden. Sehr wichtig sind die Alphabetisierungskurse, die wir auch für die Eltern anbieten. Wer nicht lesen und schreiben kann, ist automatisch der Sklave von morgen. Das ist in Bolivien genauso wie in Deutschland.

Sie arbeiten auch mit Psychologen zusammen ...

Neuenhofer Ja, weil die Kinder alle zum Beispiel wegen Missbrauch traumatisiert sind. Elf Psychologen arbeiten bei uns in Vollzeit.

Haben Sie auch Möglichkeiten, den Kindern medizinisch zu helfen?

Neuenhofer Wir haben das modernste Krankenhaus in der Stadt errichtet. Alle Kinder aus den Armenvierteln und den Heimen werden dort kostenlos behandelt. Mit vier Ambulanzfahrzeugen fahren wir zudem in die Armenviertel, um auch vor Ort behandeln zu können.

Seit 20 Jahren helfen Sie den Straßenkindern in La Paz. Ist es da nicht frustrierend, wenn die Armut während dieser Zeit noch zunimmt und auch die Zahl der Straßenkinder?

Neuenhofer Rückblickend kann das schon frustrierend sein. Andererseits haben wir Hunderten, Tausenden geholfen. Daraus ziehe ich meine Kraft — und aus einem Satz von Mutter Teresa, der über meinem Bett hängt.

Wie lautet er?

neuenhofer Wenn in unserer maroden Welt ein Kind weniger leidet, dann ist diese schon ein bisschen besser. Das trifft es.

Wie viel Geld sammeln Sie pro Jahr?

Neuenhofer Dieses Jahr brauchen wir 900 000 Euro. Damit bezahlen wir 158 Gehälter und können die Kinder versorgen. 25 bis 30 Prozent dieses Geldes stammt aus der Region Mönchengladbach.

Wie viel Geld brauchen Sie für ein Kind pro Tag?

Neuenhofer 1,40 Euro. In dem Betrag inbegriffen ist alles, was die Kinder zum Leben brauchen. Wir kaufen ihnen zum Beispiel Kleidung, Essen, Seife und Zahnpasta, Schultracht, Stifte und Hefte.

Hat eigentlich durch die Euro-Krise die Spendenbereitschaft nachgelassen?

neuenhofer Nein, sie hat nicht abgenommen. Die Spender wissen bei uns aber auch, dass wirklich jeder Euro direkt an die Kinder geht. Wir haben zum Beispiel keine Verwaltungskosten wie andere Hilfsorganisationen.

Auch bei Borussia sammelten Sie wieder ...

Neuenhofer Ja, darüber freue ich mich sehr. Ich bin am Bökelberg aufgewachsen und schon immer ein riesiger Fan des Vereins.

Wie ist es zu dieser Zusammenarbeit gekommen?

neuenhofer Die Familie von Geschäftsführer Stephan Schippers lebte 20 Jahre in Bolivien. Ihm gefiel das Projekt, seitdem sammele ich alle zwei Jahre bei einem Heimspiel Spenden.

Selbst der FC Bayern München spendete schon ...

Neuenhofer Ja, er war zu Gast im Borussia-Park. Rolf Königs nahm Uli Hoeneß und Karl-Heinz Rummenigge beiseite, zeigte auf mich und sagte: "Setzt Euch mal dort zu dem Pfarrer und lasst Euch erzählen, was er in Bolivien macht."

Und wie viel spendeten die Bayern?

Neuenhofer 10 000 Euro. Dann versprach Uli Hoeneß mir, dass sie den gleichen Betrag noch mal zahlen, wenn Bayern Herbstmeister wird. Ich bestürmte den Himmel, doch es half nichts: Hoffenheim war besser.

Wie sieht die Projekt-Zukunft aus?

Neuenhofer Ich bin da sehr optimistisch. Wir haben tüchtige und transparente Mitarbeiter, was in Bolivien eine seltene Kombination ist. Ich werde bis an mein Lebensende in Bolivien bleiben. Auch wenn ich einige Aufgaben bald wegen meines Alters delegieren muss: Das Handtuch werde ich nie schmeißen.

Ruth Wiedner, Inge Schnettler und Fabian eickstädt führten das Gespräch.

(NGZ/rl)
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