Korschenbroicher organisiert Minen-Entschärfungen "Müssen dort sein, wo Menschen in Not geraten"

Korschenbroicher organisiert Minen-Entschärfungen · Von Ruth Wiedner

Von Ruth Wiedner

Er kann sich seine Einsatzorte nicht aussuchen: Wolfgang Nierwetberg, Geschäftsführer der weltweit tätigen Hilfsorganisation "HELP - Hilfe zur Selbsthilfe", ist immer dort anzutreffen, wo es kriselt. "Wenn Sie helfen wollen, müssen Sie dort sein, wo Menschen in Not geraten." Bevor er Montag wieder das Flugzeug in die Ost-Türkei bestieg, stand er der NGZ zum Irak-Krieg zu einem Interview zur Verfügung. HELP-Geschäftsführer Wolfgang Nierwetberg besuchte am Wochenende noch mit Ehefrau Helga seine Eltern in Herrenshoff: Seit Montag versucht der Korschenbroicher, über die Türkei in den Irak einzureisen.

Herr Nierwetberg, die Menschen hierzulande werden - wenn sie es wollen - 24 Stunden nonstop über den Irak-Krieg informiert. Die meisten Nachrichten sind gefärbt. Was kann und darf man glauben?

Nierwetberg: Man darf glauben, dass dort ein sehr blutiger Krieg geführt wird. Man darf davon ausgehen, dass es mehr Opfer unter der Zivilbevölkerung, aber auch unter den kämpfenden Truppen gibt, als man öffentlich macht. Wenn man beispielsweise hört, 'Flughafen Bagdad eingenommen, 400 tote irakische Soldaten', dann kommen mir doch erhebliche Zweifel. Geht man von der Ausgangssituation aus, sieht man, wie viele zig tausend Soldaten von den Irakis aufgeboten worden sind, weiß man, dass es viele, viele Tote gibt, die nicht gezählt werden.

Es gibt neben dem menschlichen Leid jetzt auch den Versorgungsengpass. Kein Wasser, kaum Nahrungsnachschub. Wie groß ist die Not?

Nierwetberg: Ich denke, die große Notsituation setzt erst ein. Noch vor dem Krieg war die Situation die, dass rund 60 Prozent der Bevölkerung von dem 'Nahrungsmittel für Öl-Programm' abhängig waren. Bevor die Zuständigen das Land verlassen haben, wurde eine doppelte Ration für etwa zwei Monate verteilt. Das läuft jetzt aus. Da sind in Kürze die ersten Engpässe zu erwarten. Dann stehen die Menschen da und haben nichts mehr zu essen.

Wie können Sie mit HELP die Situation entzerren helfen?

Nierwetberg: Es gibt mehrere Möglichkeiten, wie wir helfen können. Das hängt von den Bedürfnissen vor Ort ab. Zunächst müssen wir die Bedürfnisse feststellen und ermitteln, wie wir mit einem möglichst geringen Aufwand das Bestmögliche erreichen können. Zum Beispiel: Ich kenne das Krankenhaus in Erbil, ich weiß wie es ausgestattet ist. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass bei den täglichen kriegerischen Auseinandersetzungen im Umland auch sehr viele Zivilisten verletzt sind, dass aber auch unter den Kämpfern sehr viele Opfer sind. Für uns ist ein Kämpfer, der verletzt ist und der seine Waffen abgibt, zunächst mal ein Mensch, der ins Krankenhaus gehört und dem geholfen werden muss. Denkbar ist eben, dass sehr viele dieser Verletzten im Nordirak in das Krankenhaus von Erbil gebracht werden und da versorgt werden müssen. Dort besteht, sowohl von den menschlichen Ressourcen und von Materialien, die verfügbar sind, ein riesiger Bedarf. Es werden Ärzte, Krankenpflegepersonal und Medikamente gebraucht.

Heißt das, medizinische Versorgung hat Vorrang, sie kommt noch vor Grundnahrungsmitteln?

Nierwetberg: Ja. Die medizinische Versorgung ist zunächst der erste Ansatz. Das ist auch am schnellsten zu realisieren. Sie können mit einer kleinen Lastwagen-Ladung an medizinischem Gerät und Personal sehr schnell ins Land gehen. Nahrungsmittel-Hilfe hingegen ist immer etwas komplizierter zu organisieren. Sie müssen im Umfeld optimalerweise die Nahrungsmittel kaufen - in diesem Fall entweder in der Türkei oder im Iran.

Welche Hilfen kämen noch in Frage?

Nierwetberg: Als nächster Schritt wäre ein Entminungsprogramm denkbar. Sie wissen, dass wir auf dem Balkan Entminungsprogramme haben, gleiches haben wir auch in Afghanistan gemacht. Alle Kriegsparteien legen zurzeit Minen. Das wird ein riesiges Problem - vor allem für die kleineren Landwirte, für die Zivilbevölkerung, aber speziell für die Kinder. Das Minen-Entschärfungsprogramm wäre natürlich auch eine Möglichkeit für HELP, sich im Irak zu engagieren. Was wir auch gern machen, das sind Einkommen schaffende Maßnahmen, wie zurzeit auf dem Balkan.

Was muss man sich darunter vorstellen?

Nierwetberg: Es wird Saatgut verteilt oder kleine landwirtschaftlich Geräte. Das ist die Form der klassischen Hilfe zur Selbsthilfe, steht ja auch so bei uns im Namen.

Wenn Sie jetzt wieder in den Flieger steigen, wo geht's genau hin?

Nierwetberg: Zunächst geht's in die die Ost-Türkei - dort gibt's den letzten offenen Flughafen. Dort treffe ich auf eine kleine Gruppe von Maltesern, die anfangs - ähnlich wie ich - auch nicht über die Grenze in den Irak gelassen wurden. Wenn die Grenze immer noch dicht ist, werde ich versuchen, über Syrien einzureisen.

Ist das nicht paradox, Sie wollen als anerkannte Hilfsorganisation helfen, werden aber gar nicht erst ins Land vorgelassen?

Nierwetberg: Das ist halt Politik. Die Türken haben aus der Problematik Anfang der 90er Jahre gelernt. Es kamen mit dem ersten Golf-Krieg nicht nur weit über 500.000 Kurden über die Grenze in die Türkei. Mit diesen Flüchtlingen kamen auch unerwünschte Elemente - beispielsweise Kämpfer. Die Türken hatten danach sechs, sieben Jahre lang einen Bürgerkrieg im eigenen Land. Das soll verhindert werden.

Das Fernsehen zeigte ein oder zwei vorbereitete Flüchtlingslager - eine Zeltansammlung ohne Menschen. Gibt es gar keine Flüchtlinge?

Nierwetberg: Nein, es gibt zurzeit keine Flüchtlinge? Das ist das wirklich Neue an dieser Auseinandersetzung. Jeder von uns (den Hilfsorganisationen) ist in den Irak gegangen, weil er davon ausgegangen ist, dass es zu Flüchtlingsbewegungen kommen wird. Wir haben noch einen weiteren Mitarbeiter im Iran an der Grenze zum Irak, etwa 80 Kilometer von Bagdad entfernt. Auch da kommen keine Flüchtlinge über die Grenze. Es kann gut sein - und so war es garantiert in den ersten Tagen des Krieges - dass Militär- und Polizeikontrollen auf der Straße verhindert haben, dass die Irakis ihre angestammten Gebiete verlassen. Man hat lediglich zugelassen, dass sie aufs Land gingen, aber nicht mehr. Die Leute wurden also im eigenen Land festgehalten.

Wenn Saddam Hussein entmachtet wäre, wie wird dann das Volk Ihrer Ansicht nach reagieren? Setzt die große Flüchtlingsbewegung noch ein?

Nierwetberg: Grund der Flucht ist zunächst mal die kriegerische Auseinandersetzung. Wenn die entfällt, wenn nicht mehr gekämpft wird, gibt es auch keinen Grund zur Flucht. Die Leute werden höchstwahrscheinlich zu Hause bleiben und darauf warten, dass man ihnen dort hilft.

Saddam gilt als ein Aggressor der übelsten Sorte, ein Diktator der eliminiert werden müsse. Kenner der Szene behaupten, nach der Absetzung Saddams würde sein Volk jubeln.

Nierwetberg: Das sehe ich genauso. Es gibt sehr viele Menschen, die aus großer Angst heraus, eine Pro-Haltung vertreten. Man muss sich das so vorstellen, das System dort ist mindestens so pervers wie früher in der DDR oder in Russland. Jeder bespitzelt jeden. Es ist damit zu rechnen, dass nach dem Sturz Saddams möglicherweise eine ganz andere Meinung geäußert wird. Amerika und die Alliierten werden Saddam eliminieren. Dann werden sich sehr viele - nicht nur im Irak, auch in der Region - auf die Seite des Gewinners schlagen. Im Augenblick ist die Stimmung in Jordanien und Syrien allerdings sehr, sehr aufgeheizt. Sie ist eindeutig gegen die Amerikaner und Engländer.

Rein optisch - oder ist es wirklich so?

Nierwetberg: Es ist so. Ich war unlängst noch in Damaskus in der deutschen Botschaft. Als ich die Stadt verlassen wollte, lief eine Demonstration zusammen. Es wurden Menschenmengen aus allen Richtungen mit Lastwagen angekarrt, natürlich organisiert. Zig Tausende strömten in die Innenstadt. Als man mein Auto sah und ich Deutschland durch die Aufkleber "HELP from Germany" zugeordnet werden konnte, gingen automatisch die Daumen hoch. Andere riefen: Michael Schumacher.

Tausende von Kriegsgegnern gehen seit Wochen weltweit auf die Straße, andere sprechen von einem gerechten Krieg, den wird es sicherlich nie geben. Sie, als Kenner der Szene, wie schätzen Sie die Situation ein? War der Krieg nach der Resolution 1441 noch vermeidbar?

Nierwetberg: Ich glaube, die Waffeninspektoren hätten nicht arbeiten können und dürfen, hätte es nicht den enormen Druck dieser riesigen Armee im Hintergrund gegeben. Der Druck bestand, das war den Irakis klar. Sie mussten den Waffeninspektoren die Möglichkeit zur Arbeit geben. Dass dennoch der Krieg eröffnet wurde, ist eine Tragödie. Man hätte eine kleine, schlagkräftige Armee weiterhin vor Ort stationieren können, aber ohne sie zum Einsatz zu bringen. Dann hätten die Inspektoren noch ein Jahr im Irak arbeiten können.

Wenn man sich darauf einlässt, wird man nicht zum Spielball Saddams und damit auch unglaubwürdig?

Nierwetberg: Klar, der hat immer seine Spielchen getrieben. Natürlich ist er ein Aggressor, natürlich ist er ein Diktator, natürlich ist er ein Mörder. Aber man bestraft jetzt auch das Volk, denn zivile Opfer sind leider nicht vermeidbar. Ich will nochmals das Stichwort vom ,gerechten Krieg" aufgreifen. Ich habe damals die Angriffe der Nato auf Serbien als gerecht empfunden. Ich war im Kosovo, ich habe gesehen, wie die Menschen vertrieben wurden, wie sie ermordet wurden und ich habe ihre Angst kennen gelernt. Ich war heilfroh darüber, dass die Nato angegriffen hat. Dass dieser Zustand im Kosovo endlich ein Ende nahm. Die Luftschläge waren wirklich nötig und richtig.

Könnten Sie einen Irak-Krieg mit UN-Mandat eher akzeptieren?

Nierwetberg: Für alle Freude der Globalisierung ist das ein Desaster, dass jetzt die Vereinten Nationen nicht mit einer Stimme gesprochen haben, sondern es zu gar keiner Entscheidung im Sicherheitsrat kam. Der Alleingang der Amerikaner ist eigentlich eine Katastrophe.

Was kann eine kleine Organisation wie HELP bei den anstehenden Problemfeldern überhaupt bewirken?

Nierwetberg: Sie dürfen nicht die zehn Kollegen und die Zivildienstleistenden sehen, die in Bonn in der Geschäftsstelle arbeiten. Sie müssen auch sehen, dass wir sehr stark dezentral arbeiten. Als damals so viele Programme auf dem Balkan liefen, haben wir unser Hauptbüro eigentlich nicht in Bonn, sondern in Sarajevo gehabt. Das ist heute noch so. Wir wissen um unsere begrenzten Möglichkeiten und tun uns in der Regel immer mit anderen zusammen. Wir sind jetzt Mitglied im Bündnis "Aktion Deutschland hilft". An der Grenze zum Irak werde ich jetzt wahrscheinlich mit Maltesern zusammenarbeiten, ich treffe sie diesen Dienstag.

Sie haben eine Frau, drei erwachsene Kinder - und doch sind sie ständig in Krisengebieten unterwegs. Suchen Sie das Risiko?

Nierwetberg: Wenn Sie das Feuer bekämpfen wollen, müssen Sie sich in seine Nähe begeben. Und wenn Sie Menschen helfen wollen, müssen Sie da sein, wo Menschen in Not geraten. Das ist nun in diesem Fall eine Kriegssituation. Man lernt mit den Jahren, sich selbst zu schützen.

Haben Sie Angst?

Nierwetberg: Klar habe ich Angst.

Glauben Sie an Gott?

Nierwetberg: Ja!

(NGZ)
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