Leichtathletik Startpistole bleibt erstmals seit 1973 stumm

Neuss · Der Neusser Erftlauf der DJK Novesia hat eine bewegte Geschichte hinter sich. Wegen der Corona-Pandemie findet er am Samstag nicht statt, eigentlich wäre die 48. Auflage über die Bühne gegangen.

 Der Ursprung des „Mythos“ Erftlauf: 1972 versammelte Erich „Opa“ Haußner (rechts) ein paar Dutzend Gleichgesinnte zum Start auf der Wolker-Anlage. Ein Jahr später ging es dann offiziell weiter.

Der Ursprung des „Mythos“ Erftlauf: 1972 versammelte Erich „Opa“ Haußner (rechts) ein paar Dutzend Gleichgesinnte zum Start auf der Wolker-Anlage. Ein Jahr später ging es dann offiziell weiter.

Foto: Rhein-Ruhr-Foto

Der Neusser Erftlauf hat bisher allen Stürmen getrotzt – und das durchaus im Wortsinne. Ein Mal nämlich musste die älteste ununterbrochen ausgetragene Laufveranstaltung im Rhein-Kreis beinahe abgesagt werden, weil ein Herbststurm im Reuschenberger Busch Bäume entwurzelt hatte. Ein anderes Mal waren es heftige Schneefälle, die die Organisatoren vor schwer zu lösende Probleme stellten: Alle wie immer mit weißer Kreide angebrachten Markierungen waren quasi über Nacht unter einer geschlossenen Schneedecke „verschwunden“ und mussten, diesmal mit dunkler Farbe, neu angebracht werden – was bis kurz vor dem Startschuss dauerte.

Der, daran hat sich bis heute nichts geändert, ertönt immer um 14 Uhr. Doch am Samstag bleibt die Startpistole stumm. Denn bereits vor dem „Lockdown light“ und der daraus resultierenden Schließung aller Sportanlagen hatten sich die Organisatoren aus den Reihen der DJK Novesia Neuss zu einer Absage durchgerungen. Zum ersten Mal seit 1973 wird das Sportjahr ohne eine der traditionsreichsten Laufveranstaltungen im Rheinland zu Ende gehen. Und nicht nur das: Auch der 38. Nikolauslauf der Turngemeinde am 5. Dezember und der Neusser Silvesterlauf am letzten Tag des Jahres sind bereits aus dem Laufkalender gestrichen worden.

Die Corona-Pandemie macht eben auch vor Mythen nicht Halt. Und ein Mythos ist der Erftlauf in Läuferkreisen ganz bestimmt, auch wenn er inzwischen nicht mehr die Bedeutung besitzt wie in den siebziger, achtziger und neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Das hat nicht nur damit zu tun, dass Läuferinnen und Läufer inzwischen zu beinahe jeder Jahreszeit aus einem Überangebot von Veranstaltungen wählen können. Sondern vor allem damit, dass Laufen in den vergangenen Jahren immer mehr zu einem „Fun-Event“ geworden ist.

Von „Fun“ konnte beim klassischen Erftlauf nur bedingt die Rede sein. Und das lag nicht nur am Wetter, das meist „typisch November“ war. Das hatte vielmehr etwas mit der Einstellung zu tun, mit der die meisten die Erftlauf-Strecke unter die Schuhsohlen nahmen: Vorne lieferten sich die Spitzenläufer knallharte Duelle um Siege und Streckenrekorde. Und auch dahinter regierte der Ehrgeiz: Wer den Erftlauf unter einer Stunde packte, hatte so etwas wie eine Schallmauer durchbrochen…

Dabei war die Idee hinter dem Ganzen einfach – und wie viele einfache Ideen einfach genial. Anfang der siebziger Jahre kam Erich Haußner auf den Gedanken, auf der (damals) beliebtesten Trainingsstrecke der Neusser Läufer, der „Erftrunde“, einen Wettkampf zu veranstalten – der Erftlauf war geboren. 1972 gab es einen „Vorlauf“, zu dem sich knapp 100 Laufenthusiasten auf dem Parkplatz der Ludwig-Wolker-Sportanlage einfanden. Unter ihnen der ehemalige Deutsche Marathonrekordler Erich Blumensaat – der Essener sollte später ebenso wie „Opa“ Haußner zu einem Pionier der Laufbewegung für Senioren werden.

Ein Jahr später wurde es offiziell. Der erste Erftlauf führte über zwölf Kilometer, von der Wolker-Anlage durch den Reuschenberger Busch, an der Obererft entlang zur Nordkanalallee, über den Scheibendamm zum Sporthafen und von dort über den Erftwanderweg bis nach Selikum und durch den Reuschenberger Busch zurück an Start und Ziel. Heute nur schwer vorstellbar: Für den Lauf wurden die Kreuzung am Alexianerplatz, die B9 in Höhe der Erftbrücke bei Grimlinghausen, der Berghäuschensweg am Wiesenwehr und der Nixhütter Weg zeitweise für den Autoverkehr gesperrt.

Hans Holtz und die gebürtige Neusserin Christa Kofferschläger (beide Barmer TV), die später als Christa Vahlensieck mehrere Weltbestzeiten im Marathon lief und noch zwei Mal den Erftlauf gewann, hießen die ersten Sieger. Zwei Jahre später wurde die Strecke um zwei Kilometer verlängert, es ging jetzt vom Scheibendamm aus durch den heutigen Rheinpark und die Straße unterhalb des Rheindeichs bis zum Sporthafen. Paul Angenvoorth, bei den Olympischen Spielen 1972 in München auf Platz 16 bester Deutscher im Marathonlauf, und seine spätere Ehefrau Manuela Preuß sorgten für einen Doppelsieg des SC Bayer Uerdingen.

Weitere zwei Jahre später kam das „Aus“ für die klassische Erftrunde. Die Polizei sah sich nicht mehr in der Lage, gleich mehrere Hauptverkehrsadern für den Lauf zu sperren. Die Organisatoren machten aus der Not eine Tugend – und „erfanden“ jene Runde, die für mehr als drei Jahrzehnte zum Klassiker über 15 Kilometer werden sollte: Von der Wolker-Anlage ging es nun durch den Reuschenberger Busch und den Selikumer Park bis zur Erftbrücke in Weckhoven, an der dortigen Bezirkssportanlage vorbei auf den Erftwanderweg Richtung Gut Gnadental. Eine Schleife am Wiesenwehr brachte die Läufer auf den Fußweg zwischen A57 und Gnadental und durch die Kleingartenanlage am Römerlager bis zum Alexianerplatz, von dort über die Nordkanalallee und den Weg an der Obererft zurück zur Wolker-Anlage.

Bernd Kofferschläger war der erste, der sie bei der Premiere 1977 nach 48:27 Minuten erreichte und damit den Grundstein für die „große Zeit“ der Neusser Langstreckler (nicht nur) beim Erftlauf legte. Er selbst siegte drei Mal, Bernd Rangen und Martin Grüning je vier Mal. Ihr Gegenstück bei den Frauen heißt Petra Maak, die Dormagenerin gewann zwischen 1984 und 2008 sogar acht Mal. Um die „Neusser“ Siegesserie zu unterbrechen, musste dann schon ein Weltmeister kommen: Willi Wülbeck siegte 1979 in 47:03 Minuten, vier Jahre später gewann er in Helsinki den WM-Titel über 800 Meter. Seinen Start hatte damals ein externer Sponsor ermöglicht, denn beim Erftlauf wurden (und werden) weder Antritts- noch Fahrgelder gezahlt.

Martin Grüning, damals einer der besten deutschen Marathonläufer und heute Chefredakteur der „Runner’s World“, hält seit 1991 mit 45:38 Minuten den Streckenrekord über die „klassische“ Strecke – im gleichen Jahr wurde mit 980 Startern auch ein Rekord in Sachen Teilnehmer der inzwischen (seit 1988) um einen Fünf-Kilometerlauf erweiterten Veranstaltung aufgestellt.

Die fortschreitende Wohnbebauung vor allem in Meertal zwang ab 2011 zu mehreren Streckenänderungen, 2014 ging es dann erstmals über die Golfanlage Hummelbachaue. Was natürlich die bei Straßenläufen immer schwierige Vergleichbarkeit von Strecken(best)zeiten nahezu unmöglich macht. Doch die 46:57 Minuten, mit denen Habtom Tedros vor einem Jahr gewann, ließen aufhorchen. Vielleicht findet der Erftlauf ja wieder zu „alten“ Zeiten zurück – die 48. Auflage soll jedenfalls am 20. November 2021 nachgeholt werden.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort