Korschenbroicher Chirurg war drei Wochen in Südindien "Entstellte Patienten hoffen auf ein Stück Normalität"

Korschenbroicher Chirurg war drei Wochen in Südindien · Von Ruth Wiedner

Von Ruth Wiedner

Operationstermine bestimmen seinen Alltag. Seine Praxis für plastische Chirurgie - kombiniert mit einer kleinen Privatklinik - ist die Wirkungsstätte von Dr. Matthias Gensior. Alles modern eingerichtet, technisch auf dem neuesten Stand. Und doch sucht der 47-Jährige immer nach neuen medizinischen Herausforderungen. So tauscht er seit 1994 regelmäßig sein gewohntes Umfeld gegen ein völlig fremdes Terrain.

Visite im "Father-Müller-Institut" in Mangalore: Dr. Matthias Gensior (r.) erklärt im Rahmen seines Interplast-Einsatzes den indischen Kollegen vor Ort, wie man bei extremer Narbenbildung bei Verbrennungsopfern vorzugehen hat. Fotos (2): privat

Ein ihm unbekanntes Krankenhaus in der Hafenstadt Mangalore wurde jetzt für knapp drei Wochen zu seiner Wirkungsstätte. Unter einfachsten Bedingungen und extremen klimatischen Verhältnissen operierte der Korschenbroicher schwere Verbrennungsopfer - täglich bis zu zwölf Stunden. Er war im Auftrag von Interplast Germany als Leiter eines elfköpfigen Ärzte- und Schwestern-Teams zu einem freiwilligen Arbeitseinsatz nach Südindien gereist.

Das, was der 47-Jährige bei seinen internationalen Einsätzen vorfindet, ist mit deutschen Standards in keiner Weise vergleichbar. Doch nicht nur die spärlichen Arbeitsbedingungen in dem "Father-Müller-Institut" forderten das komplette Team, auch die 130 zu behandelnden Patienten mit extremen Verbrennungsnarben, Fehlbildungen an den Händen und angeborenen Lippen-, Kiefer- und Gaumenspalten forderten die Spezialisten aus Deutschland auf ganzer Linie.

"Mehr war bei dem Schweregrad der Verletzungen - einige mussten mehrfach operiert werden - einfach nicht möglich." Die für die Kinder und Erwachsenen kostenfreien Operationen werden durch den gemeinnützigen Verein Interplast Germany ermöglicht. Ein dreiwöchiger Interplast-Einsatz wird mit etwa 10.000 Euro kalkuliert. Dabei können 100 Patienten mit einem Kostenaufwand von rund 150 Euro pro Operation behandelt werden.

"Wir wollen aber nicht nur den Patienten aus dem Einsatzland helfen, das wäre einfach zu wenig für den doch immensen organisatorischen Aufwand", erklärt Dr. Matthias Gensior gegenüber der NGZ. Damit es nicht bei dem viel zitierten "Tropfen auf den heißen Stein bleibt", werden die örtlichen Berufskollegen aktiv in das OP-Programm mit eingebunden.

Verbrennungsopfer: Dem kleinen Mädchen wurde erfolgreich geholfen, allerdings reichte dafür eine Operation nicht aus.

Für sie wird der Aufenthalt des Ärzteteams also zu einer Intensivschulung auf hohem Niveau: "Durch die Hilfe vor Ort wird bei den einheimischen Berufskollegen nicht nur das Interesse an Lösungsmöglichkeiten geweckt, es werden auch Kenntnisse vermittelt, damit sie nach unserer Abreise viele medizinische Probleme selbst und damit eigenverantwortlich lösen können." Das entspricht der Interplast-Philosophie.

Schließlich hat Interplast-Gründer Donald Laub (Stanford/USA) ein chinesisches Sprichwort zum Leitmotiv der ehrenamtlich arbeitenden Organisation erklärt: "Schenke ihm einen Fisch, und er wird heute satt. Lehre ihn das Fischen, dann wird er für den Rest seines Lebens satt." Warum es den plastischen Chirurg aus Korschenbroich gerade nach Südindien verschlagen hat, bestimmt nicht er, sondern die Organisation.

Interplast Germany, in 40 Sektionen aufgeteilt, übernimmt pro Jahr 15 bis 20 Einsätze. Die Ziele der deutschen Vereinigung konzentrieren sich dabei ausschließlich auf Indien, Sri Lanka, die Philippinen und Vietnam. In Südindien treffen die Teams vorwiegend auf angeborene Fehlbildungen im Gaumen- und Rachenbereich und auf Verbrennungsnarben schlimmsten Ausmaßes. Dr. Matthias Gensior, der sich nach seiner Ausbildung zum Chirurgen noch auf Handchirurgie und Verbrennungen spezialisiert hat, weiß, welche Belastungen auf das deutsche Team zukommen.

Nicht nur der körperliche Stress der klimatischen Bedingungen und der ausgeprägt schlichten Arbeitsvoraussetzungen machen den Medizinern zu schaffen. Die seelische Belastung ist erheblich: "Wer zum ersten Mal mit Interplast unterwegs ist, muss auch mit dem Ausmaß der Entstellungen fertig werden." Und Verbrennungsopfer gibt es in Südindien zuhauf. Warum? Das lässt sich leicht erklären. Elektrischer Strom ist kein Standard und so wird vielfach mit wackeligen Gefäßen an offenen Feuerstellen gekocht.

Die Explosionsgefahr dabei ist erheblich - die Verletzungen immens. Und so haben vorwiegend Frauen den kompletten Oberkörper und Kinder den Kopfbereich verbrannt. Die Verletzungen werden nur unzureichend versorgt, es kommt zu schlimmsten Narbenbildungen - die Folge: Entstellungen bis hin zur Unkenntlichkeit. "Die Opfer können vielfach nicht mehr richtig essen und trinken, viele haben ausgeprägte Sprachstörungen", beschreibt Dr. Matthias Gensior das schier unbeschreibliche Elend.

Doch damit nicht genug: Die schweren Entstellungen führen zu einer totalen Isolation der Kranken: "Auch wenn sich die Familien kümmern, sie lassen keinen verhungern, werden die Betroffenen doch ausgegrenzt." Ein Leben mit Kontakten zu anderen Familien, Freunden und Nachbarn werde auf diese Weise komplett unterbunden. So ist es nur verständlich, dass die erfahrenen Spezialisten aus Deutschland "alle Register ihres Könnens ziehen müssen", um den nicht einkalkulierbaren Herausforderungen eines Operateurs gerecht zu werden.

Spezialisten ist das Stichwort: Wer als Mediziner für Interplast tätig sein will, muss ein stattliches Polster an Können und Berufserfahrungen vorweisen. Wird man zum Leiter eines Teams berufen, kommen zu den internationalen Einsätzen noch Organisationstalent, Führungsstärke, andere motivieren und leiten zu können ebenso hinzu wie das Geschick, in äußerst schwierigen Situationen mit dem richtigen Gespür zu überzeugen. Diese Eigenschaften hat Dr. Matthias Gensior und so war er nicht das erste Mal als Leiter eines Ärzteteams im Einsatz.

Allerdings gibt Dr. Gensior im Gespräch mit der NGZ auch offen zu: "Ich übernehme den Leitungsauftrag nur dann, wenn auch zwei bestimmte Kollegen, mit denen ich seit Jahren bei diesen Einsätzen zusammenarbeite, das Team bestehend aus insgesamt neun Ärzte und zwei Operationsschwestern komplettieren." Allerdings betrachtet der Korschenbroicher seine Leiter-Funktion völlig nüchtern: "Ich bin nichts anderes, als ein Mädchen für alles."

Natürlich hat der Einsatz-Leiter das Sagen, doch er muss auch das Team zusammenstellen, die Termine koordinieren, den Flug möglichst billig buchen, die Kontakte vor Ort knüpfen und für die Unterkunft der Kollegen im Einsatzland sorgen - und dabei gilt es stets die Kosten gering zu halten, weil alles aus Spendenmitteln abgedeckt wird. Doch auch hier profitiert der Korschenbroicher Chirurg von seinen langjährigen Interplast-Erfahrungen.

Verständnis für das soziale Engagement erntet er auch in seinem Umfeld. Während er sich für den guten Zweck seit 1994 regelmäßig aus seiner Korschenbroicher Praxis für rund drei Wochen abmeldet, halten sein Praxispartner und Bruder Dr. Johannes Gensior (Chirurg) und seine Frau Berenike (Anästhesieärztin in der Korschenbroicher Privatklinik) vor Ort die Stellungen. "Das ist ihr sozialer Beitrag", weiß der 47-Jährige dieses Abkommen zu schätzen.

Doch seiner Ehefrau ist das nicht genug. Auch sie ist regelmäßig für die weltweit tätige Organisation im Auslandseinsatz: "Wenn wir auch sonst hervorragend zusammenarbeiten, die Interplast-Einsätze laufen allesamt getrennt ab." Anfangs mussten die beiden heute schon fast erwachsenen Söhne der Gensiors versorgt werden, mittlerweile wissen beide um den Stress beim Einsatz: "Da ist es schon für das Klima im Team besser, wenn keine Ehepartner zu einer Crew gehören."

Die Arbeit von Interplast wurde übrigens 2001 mit dem Charity-Bambi ausgezeichnet. Mehr zu der Organisation mit ihrer Bundesgeschäftsstelle in Bad Kreuznach ist im Internet unter www.interplast-germany.de zu finden.

(NGZ)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort