Lokalsport Besorgnis erregend

Radrennen wie die "Tour de Neuss" gibt es immer weniger in Deutschland. "Nur die, bei denen alle dahinter stehen, überleben", sagt Experte Marcel Wüst. Doch mit den Rennen droht eine ganze Sportart auszusterben.

 "So eine Stimmung wie in Neuss tut richtig gut", findet Fabian Wegmann.

"So eine Stimmung wie in Neuss tut richtig gut", findet Fabian Wegmann.

Foto: NGZ

Wolfgang Bittermann hat viel erlebt. Seit 1986 ist der Mann mit dem unverkennbaren Berliner Akzent als Funktionär im Radsport aktiv. Seit einigen Jahren reist der 64-Jährige als "Doping-Kommissär" des Bundes Deutscher Radfahrer (BDR) durch die Lande. Seine Aufgabe: zu überwachen, dass die Dopingkontrollen ordnungsgemäß über die Bühne gehen. Bis vor zwei Jahren war Bittermann ständig auf Achse. Besonders in den Tagen nach der Tour de France jagte in Deutschland ein Radrennen das nächste.

 "Die Neusser lieben und wollen dieses Rennen", sagt Bürgermeister Herbert Napp über die Tour de Neuss. Die Stimmung am Mittwochabend gab ihm Recht.

"Die Neusser lieben und wollen dieses Rennen", sagt Bürgermeister Herbert Napp über die Tour de Neuss. Die Stimmung am Mittwochabend gab ihm Recht.

Foto: NGZ

Inzwischen ist das Leben des Wolfgang Bittermann deutlich ruhiger geworden. "Viele Rennen, vor allem die, die in der Zeit des Jan-Ullrich-Booms aus dem Boden geschossen sind, gibt es nicht mehr." Aber auch Traditionstitel wie die Niedersachsen-Tour mussten die Segel streichen. Jetzt fürchtet Wolfgang Bittermann, dass mit den Rennen eine ganze Sportart auf dem sterbenden Ast sitzt. Die Krisensymptome sind überall zu spüren, an der Basis wie an der Spitze. "Das fängt schon mit dem Training für den Nachwuchs an", sagt Bittermann, "wer wagt sich denn heute noch mit einer Gruppe von Kindern oder Jugendlichen in den Straßenverkehr?"

 Noch gibt es Nachwuchs: Die Büttgener Patrick Oeben (Mitte) und Willi van der Sande (links) siegten bei der U 19.

Noch gibt es Nachwuchs: Die Büttgener Patrick Oeben (Mitte) und Willi van der Sande (links) siegten bei der U 19.

Foto: NGZ

Und das hört an der Spitze auf, die immer weniger Möglichkeiten findet, ihrem Sport nachzugehen: "Bis vor kurzem konntest du jedes Wochenende zwischen drei, vier Rennen wählen. Jetzt bist du froh, wenn du überhaupt noch eins findest", sagt Jung-Profi Joachim Tolles. Wer wie der Uedesheimergrenznah lebt, kann wenigstens noch ins benachbarte Ausland ausweichen.

 Vorbild Spitzensportler: Andreas Beikirch dreht mit den jünsten Tour-Teilnehmern eine Runde.

Vorbild Spitzensportler: Andreas Beikirch dreht mit den jünsten Tour-Teilnehmern eine Runde.

Foto: A. woitschützke

Denn die Radsportkrise ist ein hausgemachtes, ein rein deutsches Phänomen. Findet zumindest Erik Zabel. Der einstige Sprint-Star, der vor zwei Jahren offenbarte, 1996 während der Tour de France eine Woche lang EPO-Doping betrieben zu haben, begleitete das Team Columbia drei Wochen als Berater durch Frankreich. Sein Eindruck: "In Frankreich ist die Radsport-Begeisterung ungebrochen, in Italien und Spanien ebenso. Was wir hier erleben, ist rein auf Deutschland beschränkt."

Marcel Wüst sieht es ähnlich. In den vergangenen Jahren stets als Experte der ARD bei der Tour de France im Einsatz, musste er diesmal mangels Engagement der Öffentlich-Rechtlichen zu Hause bleiben. "International sind die Einschaltquoten überall gestiegen", weiß der Kölner und führt das auf das Comeback von Lance Armstrong zurück. National, sagt Wüst, hatte Eurosport, dass weiter in gewohntem Umfang berichtete, weitaus höhere Quoten als das ZDF mit seinen Zusammenfassungen. Das, ist er überzeugt, sei der Beweis, dass auch die Menschen hierzulande weiterhin Radsport sehen wollten.

Eine Überzeugung, die die aktiven Fahrer teilen. "So eine Stimmung wie in Neuss tut richtig gut", sagt Fabian Wegmann. Der Münsteraner aus dem Milram-Team ist Stammgast bei der Tour de Neuss, die er vor zwei Jahren gewann. Diesmal blieb der 29-Jährige unplatziert, was seiner Begeisterung keinen Abbruch tat: "Eines der besten Rennen dieser Art in Deutschland", findet Wegmann.

Das hört Herbert Napp gerne. Der Neusser Bürgermeister hat just in einer Zeit, in der sich andere abwenden, sein Herz für den Radsport entdeckt. "Weil die Neusser dieses Rennen wollen und lieben", sagt er auf die Frage, warum er weiterhin Schirmherr der "kleinen Tour" ist. Marcel Wüst sieht es ähnlich: "Überleben", sagt der Experte, "werden nur die Rennen, bei denen alle dahinter stehen — die Stadt, die Sponsoren, die Medien und die Menschen." Die Tour de Neuss, ebenso wie die Bewerbung seiner Stadt als Etappenort der Tour de France sieht Herbert Napp als beste "Image- und Standortwerbung, es unterstreicht unseren Anspruch als Zentrum der Region." Deshalb bedauert Napp, dass es die Deutschland-Tour, die 2008 im vorerst letzten Jahr ihrer Existenz zwei Tage Station in "seiner" Stadt machte, nicht mehr gibt. Auch diese Ansicht teilt er mit Marcel Wüst: "Man hat uns unseres nationalen Aushängeschildes beraubt", sagt der frühere Klassesprinter. Seither fokussiere sich alles noch stärker auf die Tour de France: "Nur wer da vorne fährt, wird von der Öffentlichkeit wahrgenommen."

Das kann Heinrich Haussler nur bestätigen. Seit er in Colmar die 13. Etappe der Tour de France gewann, habe sich sein Leben geändert, sagt der 25-Jährige. Die Zahl der Autogrammwünsche und Interviewanfragen habe deutlich zugenommen. Dass er trotzdem erwägt, demnächst international für sein Geburtsland Australien zu starten, sagt viel über den Zustand des deutschen Radsports.

(RP)
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