Lutz Hübners Stück "Gretchen 89ff." im TaS Neun schmackhafte Häppchen

Doch Kino? Nein, wir sind im Theater, irgendwo in der Provinz, in einem kleinen Haus, wo Goethes "Faust" groß rauskommen soll. Die "Kästchenszene" in Gretchens Zimmer steht an - als Probe zunächst, doch damit jeder weiß, was passiert, bevor das inzwischen längst zum geflügelten Wort avancierte "Am Golde hängts, zum Golde drängt doch alles" fällt, sehen wir eine Filmszene aus der legendären "Faust"-Inszenierung von Gustaf Gründgens.

Ein zweieinhalb-Minuten-Trailer gewissermaßen, der aber nicht im Entferntesten darauf vorbereitet, was wir dann zu sehen bekommen. Denn welch unzählige Möglichkeiten gibt es schließlich für Schauspieler und Regisseure, die Szene in Gretchens Kämmerchen umzusetzen - Lutz Hübner hat die schönsten in seinem Stück "Gretchen 89ff." niedergeschrieben, und die beiden Schauspieler Claudia Brasse und Björn Brackelsberg servieren sie uns im Theater am Schlachthof als Theater-Leckerbissen.

In neun Häppchen, die nur einen Nachteil haben: Sie reichen nicht aus, um satt zu werden. Dass man sich nach gut eineinhalb Stunden wünscht, Hübner hätte noch mehr von den skurrilen Typen, denen er in seiner Laufbahn als Theaterautor und -schauspieler begegnet ist, aufs Papier gebracht, hat auch damit zu tun, dass Brasse und Brackelsberg die verschiedenen Versionen von Fräulein Birgit Kowalski und Regisseur Riedel unter der sanften Regie von Sven Post kongenial umsetzen. "Der Schmerzensmann" unter den Regisseuren etwa ist einer, der "kein Theater, sondern die Wahrheit" will.

Wut will er sehen und triezt seine Schauspielerin mit so viel wahrer Inbrunst, bis das Gretchen als solches nicht mehr erkennbar ist. Während hier das Gewicht des Spiels auf Backelsberg liegt, und von ihm wunderbar leicht geschultert wird, steht bei der "Anfängerin" Claudia Brasse im Zentrum. "Ich hab mir überlegt ...", fängt sie, die noch ganz schauspielschul-beseelt ist, gerne ihre Vorschläge an, und dass dies in den Ohren des geduldigen Regisseurs schnell wie eine Drohung klingt, nimmt nicht Wunder angesichts Brasses nuanciertem Spiel als Nervensäge. Die beiden spielen sich die Bälle so geschickt zu, dass nie die Gefahr entsteht, da könnte einer daneben fallen. Sie nehmen Hübners Text beim Wort, malen seine Charakterzeichnungen mimisch und gestisch aus, ohne sie zu überfrachten.

Im realen Bühnenleben machen Brasse und Brackelsberg also genau das Gegenteil von dem, was ihre Figuren in dem von Hübner gezeichneten Bühnenalltag machen: Sie nehmen sich zurück im Dienst ihrer Rolle. Theaterleute, die Theaterleute spielen, ist eine Konstellation, die immer einen besonderen Reiz hat, doch Hübner hat es geschafft, den Blick hinter die Kulissen zu einem amüsanten Prozess der Erkenntnis auszuweiten: nämlich über menschliche Schwächen schlechthin. Wenn also der übereifrige Hospitant (Brackelsberg) am Schluss der Aufführung an der Rampe steht - mit selig-verzücktem Gesichtsausdruck und schlenkernden Armen - und sagt: "Theater ist einfach toll!" mag er noch so dämlich aus der Wäsche gucken. Recht hat er. Helga Bittner Nächste Aufführung: Am Sonntag, 20 Uhr

(NGZ)
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