NGZ-Gespräch mit Professor Max Fuchs Kultur ist ein Produkt des guten Lebens

Professor Max Fuchs hat zahlreiche Schriften zur Theorie und Geschichte von Bildung und Kultur sowie zur Kulturpolitik verfasst und veröffentlicht. Im Gespräch mit der NGZ erläutert er die Aufgaben und Möglichkeiten der kulturellen Bildung in der Gesellschaft.

 Hat auch in der Schule zum Pinsel gegriffenund renoviert: Max Fuchs.

Hat auch in der Schule zum Pinsel gegriffenund renoviert: Max Fuchs.

Foto: NGZ

Er hat Mathematik, Wirtschaftswissenschaften und Pädagogik studiert und diese Fächer auch am Gymnasium und an der Volkshochschule unterrichtet. Professor Dr. Max Fuchs kommt also von der Basis, auch wenn er seit 1988 nicht mehr im Schuldienst, sondern im Wissenschaftsbereich und als Direktor der Akademie Remscheid tätig ist. Der gerade wiedergewählte Präsident des Deutschen Kulturrats hat sich seitdem in etlichen Untersuchungen und Vorträgen und in vielen Facetten mit dem Thema "Kulturelle Bildung" in Schulen und Kindergärten auseinandergesetzt - jüngst beim Neusser "Kulturfächer", wo er als Gastredner aufgetreten ist.

 Für Max Fuchs ist Kulturarbeit auch ein Weg zu einem individuell guten, gelingenden und glücklichen Leben, das dann wieder Rückwirkungen auf die soziale Gesellschaft hat, in der sich jeder Einzelne bewegt.

Für Max Fuchs ist Kulturarbeit auch ein Weg zu einem individuell guten, gelingenden und glücklichen Leben, das dann wieder Rückwirkungen auf die soziale Gesellschaft hat, in der sich jeder Einzelne bewegt.

Foto: NGZ

Herr Fuchs, Sie haben den Begriff der "Kulturschule" geprägt. Können Sie umreißen, was Sie damit meinen?

Max Fuchs Eine Kulturschule soll eine Schule sein, in der die künstlerischen Fächer ordentlich, qualifiziert und von entsprechenden Fachlehrern unterrichtet werden. Aber sie soll auch eine gute Schule sein - im Sinne von Qualitätskriterien, wie sie auch das entsprechende Tableau in Nordrhein-Westfalen fordert. Also leistungsfähig sein, sie soll schön sein, ein kulturelles Profil und viele Kooperationsbeziehungen zu außerschulischen Kulturträgern haben. Letzteres vor allem im Sinne einer Nachhaltigkeit, indem die Kulturschule in einem Bildungs-Netzwerk mitwirkt und sich selbst als Kulturort versteht. Sie sollte als kultureller Kristallisationspunkt auch für die Öffentlichkeit in ihrer Stadt oder in ihrem Stadtteil etwas tun. Zur Kulturschule geht man gerne hin - nicht nur als Schüler, sondern auch als Lehrer.

Sie muss dabei nicht auf bestimmte künstlerische Zweige ausgerichtet sein?

Fuchs Nicht unbedingt. Es geht um die Gesamtheit. Denn die Kulturschule soll ein Schultypus sein, bei dem alles unter einem künstlerischen Leitprinzip passiert. Es gibt zum Beispiel Modellschulen wie die Helene-Lange-Schule bei Wiesbaden, die bei der Pisa-Studie Spitzenreiter ist und sich das Theater als organisierendes Prinzip gewählt hat.

Kulturelle Bildung ist für Sie nicht nur Teil der Allgemeinbildung, sondern auch ein Menschenrecht?

Fuchs Wir müssen darum kämpfen, dass kulturelle Bildung nicht ein Luxus ist, der genossen werden darf, wenn Mathematik und alles andere erledigt und dann noch eine halbe Stunde Zeit ist. Es gibt ein Menschenrecht auf Kunst und Kultur und auch auf Bildung - aus juristischer wie aus anthropologischer und wissenschaftlicher Sicht. Die These "Ohne Kunst ist menschliches Leben unvollständig" ist sehr gut zu begründen.

In Neuss ist kulturelle Bildung ein wichtiges Element auf dem Weg in die gesellschaftliche Transkulturalität. Sie aber haben in einem Vortrag Gottfried Herder zitiert, für den Kultur kein Mittel der Integration, sondern eines der Unterscheidung menschlicher Lebensweisen war.

Fuchs Das stimmt, aber ich glaube auch, dass wir falsche Vorstellungen davon haben, wie viel Gleichheit wir brauchen. Wir können ganz viel Ungleichheit ertragen, denn die Menschen sind nun mal ungleich. Jeder hat unterschiedliche Begabungen und Bedürfnisse, sieht unterschiedlich aus - das ist doch kein Problem. Schlimm wird es, wenn diese gottgegebene Ungleichheit im politischen Raum dahingehend gefestigt wird, dass es auch unterschiedliche Rechte gibt: dass die, die sich von uns unterscheiden, in Sachen Wahlrecht, Bildungs- und Berufschancen diskriminiert werden. Das ist bei uns zweifellos der Fall, da muss man sich nur die Pisa-Studie anschauen: 20 Prozent unserer Jugendlichen erreichen nicht mal die unterste Kompetenzstufe und können nicht richtig lesen. Überwiegend stammen sie aus Zuwandererfamilien. Da redet man nicht mehr über die "Schönheit einer fremden Kultur", sondern sie wird zum Ausschlusskriterium. Und das ist ein Verstoß gegen die Menschenrechte.

Die Grundkompetenz für alles, was mit kultureller Bildung zu tun hat, ist nun mal die Sprache. Da gibt es aber ein großes Problem.

Fuchs Darauf kann ich nur erwidern: Förderung, Förderung, Förderung. Es gibt gute Belege dafür, dass Kinder aus Zuwandererfamilien gerade deswegen eine Stärke haben, weil sie in zwei Sprachen Kompetenz haben könnten ...

Könnten!

Fuchs Ja, könnten. Leider haben es viele nicht. Aber ich arbeite ja auch an der Universität Essen, wo es einen Schwerpunkt für interkulturelle Erziehung gibt und bewiesen wurde, dass sich eine bilinguale Erziehung auszahlt: Die Familiensprache fördert die deutsche Landessprache und umgekehrt. Aber ich will jetzt gar nicht weiter in diese Diskussion einsteigen, denn natürlich gilt: Sprache ist der Hebel für das Verständnis - auch in Mathematik, wie Pisa gezeigt hat. Also gilt vor allem: Förderung, Förderung, Förderung.

Selbst wenn Kinder und Jugendliche damit erreicht werden: Wie können die Eltern mitgenommen werden, die die deutsche Sprache oftmals nicht beherrschen?

Fuchs Aber auch diese Eltern haben Kompetenzen. Und die guten Schulen machen eine ganz aktive Elternarbeit - nicht nur in dem Sinne, dass sie Eltern zu Pflegschaftsversammlungen einladen. Sondern sie gestalten mit den Eltern zusammen das Schulleben, bis hin zur Mitwirkung bei künstlerischen Fragen. Wobei ich nicht der Meinung bin, dass sich der Staat oder die Kommune aus diesen Fragen der Erhaltung des Schulgebäudes heraushalten darf und nur noch Eltern diese Arbeit übernehmen. Aber es gibt so viele Möglichkeiten, auch zugewanderte Eltern einzubeziehen - das fängt beim Kochen an, bei dem traditionelle Rezepte ausgetauscht und gemeinsam ausprobiert werden.

Kultur heißt im erweiterten Sinn, jemanden in seinem Alltag abzuholen?

Fuchs Ja. Zumindest diesen Alltag zu respektieren, aber es ist auch Aufgabe der Schule, diesen Alltag nicht bloß zu verdoppeln. Ich selbst komme auch aus einer bildungsfernen Familie und hätte ohne Schule nie kennen gelernt, was es sonst noch gibt. Schule muss auch ein Gegensatz zum Alltag von Kindern sein, damit sie die Chance haben, anderes kennen zu lernen, als die Familie es ihnen vorlebt. Das ist gewissermaßen das Emanzipatorische, das Versprechen der Schule in der bürgerlichen Gesellschaft, dass dies auch gelingt.

Also darf Schule keine Spiegelung sein, sondern muss einen Menschen herauslösen.

Fuchs Sie sollte auch ein Kontrastprogramm zum Alltag sein und mit neuen Dingen konfrontieren. Auch mit elaborierten künstlerischen Produkten, mit denen Kinder sonst nicht in Berührung gekommen wären. So können sie austesten, was daran interessant oder auch nicht interessant ist. Außerdem ist es ganz wichtig, dass Kinder und Jugendliche in der Schule Respekt und Anerkennung erfahren. Und das Schöne an Kunst ist, dass Kinder nach vielen Frustrationserlebnissen in Mathematik oder Deutsch in diesem Bereich sich entfalten können und jenseits allen Leistungsdruckes plötzlich dann doch Leistung bringen - zum Beispiel bei einer Aufführung, denn da muss man kein Einserschüler in Mathe sein. In der Sprache der Pädagogik heißt das Selbstwirksamkeit. Diese Leistung wird von Lehrern und Schülern anerkannt, was aber auch nur funktioniert in einer Atmosphäre der Anerkennung. Wenn es eben nicht heißt: Was kannst du nicht? Sondern: Was kannst du?

Sie haben Kultur auch spezifiziert als Produkt des guten Lebens. Eine schöne Beschreibung, aber was meinen Sie damit?

Fuchs Es geht mir dabei um Sinnhaftigkeit. Denn das Einzige, was jeder von uns will, ist ein sinnerfülltes Leben hinzubekommen. Dazu kann man den Reichtum dessen benutzen, was die Menschheit entwickelt hat. Für den einen ist es die Wissenschaft, die anderen finden in der Kunst eine hochbefriedigende Tätigkeit, weil sie sehen, dass sie sich entwickeln und in Dingen Perspektiven finden, die sie sonst nie sehen würden. Kunst heißt auch genießen.

Also geht es dabei nicht nur ums Lernen?

Fuchs Auch. Aber der Mensch funktioniert nicht nach Schubladen. Hier lernt er und dort genießt er. Der Mensch ist ganzheitlich, und das kann man auch nutzen. Mathematik lernt man zum Beispiel am besten in einer stressfreien und angenehmen Umgebung.

Das Äußere einer Schule ist wichtig?

Fuchs Ja, die Achtsamkeit für das Gebäude gehört unbedingt dazu. Denn es soll ja eine Wohlfühl-Schule sein: Wenn man sich in einer schönen Atmosphäre aufhält, benimmt man sich auch besser.

Nun ist gerade dieser Punkt allzu oft eine Frage des Geldes. Halten Sie es für den richtigen Weg, wenn etwa Eltern zum Pinsel greifen?

Fuchs (lacht) Ich habe das auch schon gemacht. In der Helene-Lange-Schule wurde zum Beispiel Geld eingespart, indem die Schüler die Arbeit der Putzfrauen übernommen haben. Dadurch entsteht bei den Kindern und Jugendlichen ein größeres Gefühl der Verantwortlichkeit: Wenn ich erfahre, dass Renovieren Arbeit ist, gehe ich anders mit den Dingen um. Und in der Schule kontrollieren die Schüler einander.

Das klingt alles sehr ideal, aber letzten Endes wird auch Schule von Menschen gemacht und von Menschen besucht. Nun sind auch die Lehrerkollegien nicht immer homogene Gruppen, die mit diesen Anforderungen zurechtkommen.

Fuchs Das ist bei Lehrern nicht anders als in jedem anderen Beruf. Ich nenne mal eine nicht wissenschaftlich stabile Faustregel: Es gibt ein Drittel, das absolut engagiert und sehr gut ist, ein Drittel, das mitläuft, und ein Drittel - vielleicht ist dieser Anteil auch zu groß -, das aus den unterschiedlichsten Gründen besser etwas anderes tun würde. Ich finde es deswegen sehr richtig, dass es bei Lehramtsstudenten an einigen Unis jetzt Eingangsprüfungen gibt, bei denen sie selbst testen können, ob sie den richtigen Beruf wählen. Was man aber auch festgestellt hat: Der Abiturdurchschnitt ist bei Lehramtsstudenten genauso hoch wie bei scheinbar elitäreren Studiengängen. Nur die Motivation ist bei ihnen höher. Es gibt also in jeder Generation einen großen Prozentsatz von hochmotivierten Lehrern, die auch eine andere Schule machen wollen. Wir haben rund 700 000 Lehrer an den deutschen Schulen - es gibt keinen anderen Betrieb, der über ein so großes und hochqualifiziertes Personal verfügt. Um das zu leiten, muss man aber auch selber gut sein.

Denn der Fisch stinkt vom Kopfe ...

Fuchs Richtig, deswegen wird die Schulleitungsfrage in der Politik und in der praktischen Arbeit auch sehr hoch geschätzt, und die Qualifizierung von Schulleitern hat einen hohen Stellenwert. Sie zu stärken, heißt auch, ihnen mehr Verantwortung zu geben - auch in Fragen der Disziplin der eigenen Lehrer. Es kann doch nicht sein, dass selbst bei kleinsten Verstößen der Schulleiter nichts unternehmen darf, sondern die übergeordnete Behörde in Gang gesetzt wird.

Ohnehin scheint die Verwaltungsarbeit immer mehr Raum einzunehmen.

Fuchs Ja, das ist wirklich ganz furchtbar. In Schweden sind die Schulen nur so gut, weil ihnen sehr viel von der Verwaltungsarbeit abgenommen wird. Schulen brauchen Autonomie und dürfen nicht ständig mit neuen Erlassen bombardiert werden. Deshalb ist der Weg zur selbstständigen Schule unverzichtbar.

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