Michael N. Szentei-Heise im NGZ-Gespräch Jüdisches Leben erwacht wieder

Von Thilo Zimmermann

Von Thilo Zimmermann

Am Samstag, am 9. November, erinnert sich Deutschland an die Pogromnacht 1938, in der auch die Neusser Synagoge in Schutt und Asche versank. Die in dieser Woche gegründete Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit will Zeichen setzen gegen den Antisemitismus. Sie entstand angesichts der Pläne, die jüdische Gemeinde wieder zu beleben und eine neue Synagoge zu bauen. Die NGZ sprach darüber mit Michael N. Szentei-Heise, dem Direktor der jüdischen Gemeinde in Düsseldorf, zu der die Neusser Juden (noch) gehören. "Ein Neuanfang, der sehr viel versprechend ist": Michael N. Szentei-Heise im NGZ-Gespräch. NGZ-Fotos (4): A. Woitschützke

Herr Szentei-Heise, die Pogromnacht von 1938 hat auch in Neuss schmerzliche Wunden hinterlassen. Welche Bedeutung hat der 9. November 2002 für Sie - in einer Zeit, in der Stimmen laut werden, die Geschichte endlich ruhen zu lassen?

Szentei-Heise: Es ist ein vielschichtiges Gefühl, das da ausgelöst wird. Da sind zum einen das Gedenken an die Toten und die Bewertung des Tages als Beginn eines viel schlimmeren Schreckens, der noch folgen sollte - was am 9. November 1938 noch gar nicht so klar war; man nannte es verniedlichend "Reichskristallnacht", so, als wäre nur Kristall zerschlagen worden. Da ist zum anderen aber, am Ende der Entwicklung, eben am 9. November 2002, die Tatsache, dass wir ganz kurz vor der Gründung einer neuen jüdischen Gemeinde in Neuss stehen. Damit schließt sich zumindest im kleinen Rahmen ein Kreis zum Positiven. Es ist also ein ambivalentes Gefühl - einerseits der Schrecken und das Gedenken, andererseits ein Neuanfang, der sehr viel versprechend ist.

In Neuss ist in dieser Woche eine Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit gegründet worden. Welche Erwartungen haben Sie an diesen neuen Verein, welche Aufgaben und Ziele sollte er verfolgen?

Szentei-Heise: Der Verein sollte das Ziel verfolgen, eine Kommunikationsbörse zu sein für alle interessierten Gruppen, insbesondere alle interessierten Religionen. Es ist ja bekannt, dass Neuss eine überwiegend katholische Stadt ist, aber es gibt ja auch viele Protestanten und inzwischen selbst eine muslimische Gemeinde mit eigener Moschee. Wenn jetzt die neue jüdische Gemeinde hinzukommt, sind im Prinzip die drei monotheistischen Weltreligionen in einer Stadt vereint. Es wäre wirklich mein zutiefst empfundener Wunsch, eine positive Kommunikation dieser drei Weltreligionen so zu erreichen, dass eine Entwicklung daraus hervorgeht zu einem friedlichen Miteinander, zu einem Verstehen der Kulturen und zu einem akzeptierenden Interesse für den Anderen.

Der geplante Synagogen-Bau im alten Theater an der Drususallee und die Wiederbegründung der jüdischen Gemeinde in Neuss gelten als bundesweit einmalige Projekte. Bürgermeister Herbert Napp sprach von einer "Stadtreparatur der besonderen Art". Wie ordnen Sie dieses Vorhaben ein?

Szentei-Heise: Ich stimme Bürgermeister Napp voll und ganz zu. Seine Aussage ist wunderschön griffig, man muss sie sich auf der Zunge zergehen lassen und weiß dann genau, was gemeint ist. Die Einzigartigkeit dieses Vorgangs besteht darin, dass sich zum ersten Mal eine Kommune auf die Fahne geschrieben hat, eine jüdische Gemeinde neu zu gründen. Neugründungen dieser Art hat es nach 1945 an mehreren Orten gegeben, aber es waren dort die jeweils ansässigen Juden, die das betrieben haben. In Neuss ist das anders. Hier ist es im Nachklang eines Halbsatzes in einer Rede tatsächlich so gewesen, dass die Stadt den Faden aufgegriffen und die Sache weiter verfolgt hat. Das ist in der Tat absolut einmalig in der Republik. Der Beschluss zugunsten eines jüdischen Gemeindezentrums war eines der ganz wenigen Dinge im Neusser Stadtrat, die offensichtlich völlig unstrittig waren. Ich weiß, wie kontrovers Politik sein kann. Und vor diesem Hintergrund ist diese Einstimmigkeit sehr beeindruckend. Das ist große Klasse.

Als die Neusser Juden Rosch Haschana, ihr Neujahrsfest, feierten, waren auch Paul Spiegel, der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, und Herbert Rubinstein, der Leiter des jüdischen Gemeindeverbands am Nordrhein, gekommen. Man darf davon ausgehen, dass die beiden mit ihrem Besuch die Bedeutung des Neubeginns unterstreichen wollten......

Szentei-Heise: ......absolut, das kann man ganz genauso sehen. In Neuss bekam Paul Spiegel auch den Quirinuspreis verliehen, das heißt er hat besondere Beziehungen zu dieser Stadt. Er verfolgt das Projekt der Wiederbegründung der jüdischen Gemeinde sehr, sehr aufmerksam - nicht nur, weil es in unmittelbarer Nachbarschaft zu seinem Wohnort in Düsseldorf geschieht, sondern wirklich aus Verbundenheit, die sich dadurch ausdrückt.

Avi Spievak vom Büro Rhode, Kellermann, Wawrowsky (RKW), ein Mitglied der jüdischen Gemeinde, hat den Architekten-Wettbewerb um die Planung der Neusser Synagoge gewonnen. Wie sieht der aktuelle zeitliche Rahmen aus, in dem das Projekt nun verwirklicht werden soll?

Szentei-Heise: Es hat gerade eine Versammlung der in Neuss lebenden jüdischen Gemeindemitglieder gegeben. Darin hat Herr Spievak das bereits weiterentwickelte Vorhaben vorgestellt. Die Finanzierung als solche ist gesichert. Wir haben mit der Stadt Neuss die erste Zusammenkunft gehabt, um die Details der Bauausführung zu erörtern. Am Mittwoch werden diese Gespräche fortgeführt. Wir haben jeweils einige Hausaufgaben mitgenommen, und die wollen wir bis dahin gelöst haben. Im Büro RKW wird außerdem mit Hochdruck an der Planung und an den Vorbereitungen für die Auftragsvergabe gearbeitet. Voraussichtlich wird mit dem Bau der Synagoge und des Gemeindezentrums noch in diesem Jahr begonnen werden.

Unter dem Vorsitz des aus der Ukraine stammenden Ingenieurs Alexander Bederov hat sich ein Komitee gebildet, das die Weichen für eine eigenständige jüdische Gemeinde in Neuss stellt. Wie weit sind Sie und Ihre Glaubensbrüder und -schwestern auf diesem Weg bisher gekommen?

Szentei-Heise: Es gibt eine einvernehmliche Entscheidung des Komitees und des Gemeinderats, dass die neu zu bildende jüdische Gemeinde in Neuss zunächst einmal eine Dependance der jüdischen Gemeinde in Düsseldorf wird. Das hat vielmehr pragmatische als alle anderen Gründe. Die Struktur der Neusser Gemeindemitglieder ist halt so beschaffen, dass es nur wenige Alteingesessene, aber umso mehr Neuzuwanderer gibt, die eine jüdische Gemeinde noch nie selbst betrieben haben. Es muss erst das Fachwissen entstehen und implementiert werden, damit diese Menschen tatsächlich eine eigene Gemeinde leiten können. Das sehen sie aber genauso. Die Option besteht jedoch, sobald wie möglich in die Unabhängigkeit von Düsseldorf entlassen zu werden.

Was heißt "sobald wie möglich"?

Szentei-Heise: Ich schätze ganz realistisch einen Zeitraum von fünf oder sechs Jahren, also wirklich kurz- bis mittelfristig, keinesfalls langfristig.

Sie haben die Verständigung zwischen Christen und Juden bei gegenseitiger Achtung aller Unterschiede auf Ihre Fahne geschrieben. Wie ist es denn um den Dialog mit den Muslimen in unserem Land bestellt?

Szentei-Heise: Er ist zurzeit sicherlich etwas erschwert aufgrund der nahöstlichen Situation und der Tatsache, dass es einer kleinen Gruppe von Muslimen offensichtlich doch gelingt, eine sehr viel größere Menge von Menschen zu radikalisieren in ihren Auffassungen. Ich frage mich etwa, warum sich jetzt ein indonesischer Muslim vom Palästinenser-Konflikt angesprochen fühlen muss. Da liegen nicht zuletzt Tausende von Kilometern zwischen. Wir haben nichtsdestotrotz durch den Tag der Konfessionen vor einigen Monaten in Neuss gesehen, dass es eine Reihe von muslimischen Gruppen gibt, die am Dialog sehr interessiert sind und ihn viel tiefer empfinden und verstehen als es die Tagespolitik derzeit zulässt. Ich habe gerade eine Einladung bekommen von einer muslimischen Gruppe, ihren Beginn des Ramadan zu besuchen. Sie hat mich nicht als Privatperson angeschrieben, sondern als Direktor einer jüdischen Gemeinde, und das ist ein ermutigendes Zeichen.

Gegner der Politik des israelischen Premierministers Ariel Scharon haben einmal ausgeführt, dass Kritik an Israel nicht mit Antisemitismus gleichgesetzt werden dürfe. Doch wo hört Kritik Ihrer Meinung nach auf und wo fängt Antisemitismus an?

Szentei-Heise: Zuerst stimme ich zu, dass Kritik an Israel keineswegs etwas mit Antisemitismus zu tun hat. Wir selbst kritisieren den Staat Israel, wir selbst kritisieren einzelne politische Vorgänge dort. Auch wenn Bundesaußenminister Joschka Fischer oder viele andere Politiker Kritik an Israel aussprechen, dann ist das selbstverständlich keinesfalls Antisemitismus.

Doch wo fängt er an?

Szentei-Heise: Antisemitismus fängt dort an, wo das Existenzrecht des Staates Israel in Frage gestellt wird, wo Forderungen aufgestellt werden, die eindeutig darauf abzielen, die Existenz des Staates zu vernichten. Das ist für mich ein ganz eklatanter Fall von Antisemitismus, der nicht akzeptiert werden kann.

Sie arbeiten in einem Büro gleich neben der Synagoge in Düsseldorf. Ständig sind davor Polizeibeamte mit ihren Wagen postiert, eine Sicherheitsschleuse gibt es ebenso wie eigene Wachleute. Auch in der künftigen Neusser Synagoge wird man um solche Maßnahmen nicht vorbeikommen. Wie schön, wie frei, wie lebenswert ist jüdisches Leben im Deutschland des Jahres 2002?

Szentei-Heise: Es ist sehr schön, es ist sehr vielfältig, es ist auch in einem gewissen Rahmen frei - allerdings um die Einschränkungen, die Sie bereits genannt haben. Es gibt einfach eine Gefährdungslage, die nicht so sehr den Einzelnen, aber die Gemeinschaft betrifft. Dies führt uns Verantwortliche dazu, Sicherheitsmaßnahmen zu ergreifen. Wir sind verantwortlich für die Kinder, die bei uns sind, für unsere Besucher, für alle Mitarbeiter und Gemeindemitglieder. Wir haben im Lauf der vergangenen 30 Jahre viele Anschläge auf jüdische Institutionen gehabt, und keiner, nicht einmal der Innenminister auf Bundes- oder Landesebene, kann uns garantieren, dass die jüdische Gemeinde in Düsseldorf oder später die jüdische Gemeinde in Neuss nicht einmal Ziel eines solchen Angriffs wird.

Was empfinden Sie, wenn Sie Meldungen lesen über geschändete jüdische Friedhöfe oder ähnliches?

Szentei-Heise: Abgesehen von der Wut stellt sich mir jedes Mal die Frage, inwiefern unsere Einrichtungen genügend geschützt sind. Es gibt bei jedem Anschlag dieser Art eine kurze Analyse mit Vergleichen zu unserer Situation. Anhand dieser Analyse werden auch Verbesserungen der jeweiligen Sicherheitsmaßnahmen getroffen. Es hat am 1. Oktober 2000 einen Molotow-Cocktail-Anschlag auf die Synagoge in Düsseldorf gegeben. Nicht zuletzt, weil er dilettantisch ausgeführt wurde, sondern auch aus sonstigen Gründen hat er zu keinerlei Schäden geführt. Es war für uns beruhigend zu sehen, dass der Schutz soweit vorhanden ist. Wir können aber nur hoffen, dass dies nicht wieder vorkommt und sich die Situation bundesweit entschärft.

Haben Sie eine Zukunftsvision, wie jüdisches Leben in Deutschland, in Düsseldorf, in Neuss einmal aussehen sollte oder könnte? Und wenn ja, wie sieht sie aus?

Szentei-Heise: Meine Zukunftsvision vom jüdischen Leben in Neuss ist eigentlich ein Bild aus der Vergangenheit. Es gibt ein altes Foto vom Neusser Schützenfest. Es zeigt die Honoratioren der Kirchen, die den Schützen vorangegangen sind. Da haben der katholische Pfarrer, der evangelische Priester und der Rabbiner der jüdischen Gemeinde den Zug gemeinsam, Arm in Arm angeführt. Das ist meine Vision, auch wenn wir heute den muslimischen Geistlichen mit dazu nehmen würden. Ich wünsche mir, dass diese Vier künftig solche Züge gemeinsam anführen und dass es eine Selbstverständlichkeit wird, dass das neue Zentrum der jüdische Gemeinde neben dem "Drusushof", einem Zentrum des Schützenfestes, so existieren kann, dass dort gegenseitig Freundschaft, Akzeptanz und Toleranz entstehen.

(NGZ)
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