NGZ-Gespräch mit Daniel Goeudevert, Ex-VW-Chef Der Gelehrteste ist nicht unbedingt der Gebildetste

Im von Zahlen geprägten Alltag der Top-Manager galt Daniel Goeudevert als Paradiesvogel. Der Ex-VW-Chef fügte seinem Jobs stets einen Schuss Emotion, Ethik und Moral hinzu. Goeudevert selbst fasst das, was er Verantwortungsbewusstsein nennt, unter dem Begriff Bildung zusammen.

Herr Goeudevert, bedeutet Bildung für Sie Allgemeinbildung im Sinne einer klassischen, humanistischen Bildung?

Daniel Goeudevert Nein. Bildung ist für mich etwas völlig anderes als Ausbildung. Bildung ist ein Verhaltensmuster, nicht die Anhäufung von Wissen. Gebildet ist für mich ein Mensch, der in der Gesellschaft seiner Verantwortung bewusst ist. Schon in der Familie, kurz nach der Geburt, beginnt der Prozess der Bildung. Zwischen dem gebildeten und dem ungebildeten Manager, Politiker oder Bürger steht die Art und Weise der Verantwortung und wie er sie wahrnimmt.

Das Victory-Zeichen von Josef Ackermann nach dem Mannesmann-Prozess war also ein Zeichen fehlender Bildung?

Goeudevert Er ist ein ungebildeter Mensch! Ein guter Bankier, er kann Renditen auf 30 Prozent schießen, das mag sein - doch ungebildet. Von einem gebildeten Menschen rede ich, wenn er eine Leistung erbringt und dennoch begreift, dass sein Handeln Auswirkungen auf die ganze Gesellschaft haben kann. Ich kann verstehen, wenn das Verhalten Josef Ackermanns manch einen zur Weißglut treibt.

Früher hat man Intelligenz anhand eines Quotienten festgelegt. Später ist man darauf gekommen, dass es verschiedene Arten von Intelligenz gibt - musikalische, soziale ... Ist das vergleichbar damit, wie die Allgemeinheit und wie Sie Bildung definieren?

Goeudevert Man verwechselt in dieser schnelllebigen Gesellschaft Bildung mit dem Beantwortenkönnen von Fragen. Der gebildete Mensch mag einige Fragen gar nicht beantworten können - weil er nicht will. Natürlich kennt er einige Gesetze der Mathematik oder der Physik, er weiß über die Literatur Bescheid. Der gebildete Mensch ist kein Depp! Und dennoch gibt es Menschen, die sich gebildet benehmen, ohne das Wissen von Gelehrten zu haben.

Der Gelehrteste ist im Umkehrschluss nicht gleichzeitig auch der Gebildetste. Es ist ein Denkfehler zu glauben, Bildung sei eine Menge an Wissen. Sie ist eine Menge an Benehmen. Bei Journalisten beispielsweise spielt Bildung eine entscheidende Rolle: Nicht wenn sie die beste Schule besucht haben, nicht wenn sie der beste Schreiber sind oder scharf Formulieren können - sondern wenn sie als Journalist die Wirkung eines Berichts bedenken: Dann sind sie gebildet. Wenn es ihnen nicht darum geht, die Auflage zu steigern, eine Sensation aufzuspüren. Gebildet zu sein in der modernen Welt ist allerdings schwierig.

Nennen Sie ein konkretes Beispiel.

Goeudevert Auf dem Flug nach Düsseldorf las ich in der Zeitung, dass Sabine Christiansen die Einschaltquote um eine Million Zuschauer steigern konnte, während Maybrit Illners Quote schlechter war als zuletzt. Warum? Frau Christiansen hatte sich für ein Thema entschieden, das die Menschen kurzfristig hinreiß: "Hatte Frau Kampusch Sex in ihrer Gefangenschaft." Natürlich guckt da jeder hin, wir alle sind Voyeure.

Maybrit Illner dagegen hat über Terrorismus berichtet. Das funktionierte nicht. Je ernsthafter die Sendung ist, desto geringer ist die Anzahl der Menschen, die zuschaut. Das Bildungsphänomen hat also zwei Facetten: Nicht nur derjenige, der etwas aufschreibt, muss gebildet sein, auch derjenige der es liest.

Dann ist "Bildung" doch auch eine Frage der Definition. Kann man darunter nicht auch Ethik und Moral fassen?

Goeudevert Ich nehme die Worte Moral und Ethik nicht mehr in den Mund, weil sie die Menschen erschrecken. Sie haben außerdem nicht viel mit Wirtschaft zu tun. Es geht eher um ein Verhaltensmuster: Wie verhalte ich mich in der Gesellschaft gegenüber Ereignissen, wie bewerte ich sie.

Gibt es ein Extrembeispiel?

Goeudevert Man hat zuletzt im Fernsehen das Gesicht des Mannes gezeigt, der für den Gammelfleisch-Skandal verantwortlich ist. Er sitzt da, hinter ihm sitzen seine Anwälte. Es ist bewiesen, dass er tonnenweise Gammelfleisch verkauft hat. Er lacht, er lächelt, er ist zufrieden mit sich selbst. Ist einer gestorben? Nein! Man hört, er wird eventuell 15 Jahre ins Gefängnis kommen - das wird niemals passieren.

Und ein Positivbeispiel.

Goeudevert Der Papst sagt einen Satz, den er nicht hätte aussprechen müssen. Sein Zitat passte einfach nicht in die heutige Zeit. Dass er zu dieser Situation später Stellung genommen hat, das zeugt von Bildung, von einer eigenen Meinung.

Menschen mit eigener Meinung könnten auch in anderen Bereichen weiterhelfen.

Goeudevert Genau. Politiker kämpfen mit einer Wählerschaft, die von links nach rechts schwappt und nicht weiß, was sie tun soll. Es ist doch unglaublich, dass die Umfragewerte von Politikern, nachdem sie gerade mal sechs Monate im Amt sind, ins Bodenlose fallen. Politik funktioniert inzwischen wie die Börse, wo Analysten bestimmen, wann was geschehen muss. Und wenn das nicht geschieht, dann wird man abgesetzt.

Demnach hat Politik auch mit Wahrnehmung zu tun?

Goeudevert Ja, sogar mit Körperwahrnehmung. Als Angela Merkel jüngst auf Jacques Chirac traf, da wollte er sie unbedingt küssen. Und man merkte, dass sie das hasst wie die Pest. Und er bedrängte sie weiter. Es gibt diesen banalen Satz: Die Grenze meiner Freiheit ist dort, wo die Grenze der Freiheit des anderen anfängt. Diesen Respekt sieht man heutzutage weder in der Politik noch in der Wirtschaft.

Gibt es dennoch Vorbilder?

Goeudevert Wendelin Wiedeking, der Porsche-Chef, hat in einem Interview zuletzt gesagt: In welcher Welt leben wir, wenn Manager die höchste Rendite für ihr Unternehmen erwirtschaften und gleichzeitig massenhaft Menschen entlassen. Er wagt es, über seine Verantwortung hinaus, über gesellschaftliche Themen zu reden. Das ist keineswegs selbstverständlich. Ein Mensch in seiner Position wird schnell zurückgepfiffen. Es heißt dann: Überlassen sie das den Psychoanalytikern, den Analytikern der Politiker, den Journalisten - ihr Job als Manager ist es, die Aktionäre zufrieden zu stellen!

Porsche geht es gut, das Unternehmen ist nicht in einem Index an der Börse notiert, Wiedeking fährt eine langfristige Strategie. Hat er es nicht einfacher als andere Manager, die ihre Quartalsberichte abzuliefern haben?

Goeudevert Sicherlich, es ist heute schwieriger als noch zu meiner Zeit. Doch Wiedeking war damals der einzige, der gesagt hat: "Ich lass mir nicht von Analysten vorschreiben, was ich innerhalb von drei Monaten zu leisten habe." In der Bank sitzt ein 25 Jahre alter Analyst. Und er schreibt einem Unternehmen, in dem er vielleicht noch niemals gewesen ist, vor, dass es 1,2 Milliarden Euro im Quartal umsetzen muss. Das Unternehmen schafft vielleicht nur 1,1 Milliarden. Doch die Aktie fällt dann ... das ist doch eine völlig irre Welt.

Diese Manager werden allerdings prima bezahlt.

Goeudevert Natürlich. Sie stehen unter einem permanenten Druck, ihre Lebenserwartung ist unheimlich kurz. Also wollen sie in dieser kurzen Zeit das Maximum kassieren. Selbst gegenüber meiner Zeit ist es enorm, was ein Manager - nicht verdient, aber - bekommt. Selbst wenn was schief geht, kassiert man noch schnell. Dafür ist der Fall Ackermann ein Parade-Beispiel. Doch wenn sich das nicht ändert, werden die Massen aufstehen. Dass das noch nicht passiert ist, ist mir ohnehin ein Rätsel.

Wie wichtig ist Bildung in der globalisierten Welt?

Goeudevert Durch Bildung, das richtige Verhalten, entwickelt man auch ein besseres Verständnis für andere. Das heißt: Bevor ich Vorteile für mich selbst erkennen will, muss ich verstehen, was mein Gegenüber will. Ich habe den Eindruck, dass die Chinesen das besser ausnutzen, als wir. Und eines ist klar: Aufgrund ihrer Größe werden Chinesen und Inder künftig den Rhythmus der Welt bestimmen. Das ist nicht mehr aufzuhalten. Amerika ist jetzt schon wirtschaftlich in der Hand der Chinesen.

Verständnis ist ja schön. Was ist mit Umweltschutz und Menschenrechten?

Goeudevert Klar, Probleme gibt es dort auch. Dennoch: Die Chinesen sind alles andere, als dumm. Sie versuchen den Spagat zu beherrschen zwischen einem nicht zu bremsenden Wachstum und den Konsequenzen, die das für ihre Umwelt haben könnte. Ich glaubt auch, die ersten umweltfreundlichen Autos werden aus China kommen und nicht von uns.

Die Chinesen werden kleinere, preiswertere Autos bauen, zu denen wir gar nicht in der Lage sind. Und das nicht unbedingt, weil sie ein besseres Verständnis für Nachhaltigkeit haben, sondern weil sie es haben "müssen". Sonst ist die Welt auf dem Weg, zu ersticken. Manch eine Firma klagt: "Die Chinesen stehlen uns Technologie." Doch, wie ein chinesischer Minister schon gesagt hat: "Wenn wir die Technologie nicht stehlen, dann erfinden wir sie selbst."

Also müssen wir uns mit China arrangieren?

Goeudevert China ist meines Wissens nicht mal Mitglied bei den G8-Staaten (Anm. d. Red.: Gruppe der acht - sieben führende Industrieländer und Russland). Die G8 sollte schon längst eine G20 sein. Doch diese acht Regierungen wollen ihre Positionen behalten. Eine Vision, wie man mit den kommenden Kräften der Wirtschaft umgehen soll, entwickeln sie dagegen nicht. Dort spielt die Bildung meiner Meinung nach eine gewichtige Rolle.

Wo kann man ansetzen?

Goeudevert Ich hatte vor einigen Jahren die Absicht eine neue Campus-Universität zu schaffen - was wegen mangelnder Mittel nicht geklappt hat. Die Idee war ein System, das auf drei Säulen fußt: die erste Säule ist eine Managerschule; eine zweite Säule steht für die Fortbildung arbeitsloser Akademiker und die dritte Säule für Non-Governmental Organisations (NGO, regierungsunabhängige Organisationen).

Aus Umweltschützern von "Green Peace" werden Manager?

Goeudevert Mit der letzten Gruppe habe gute Erfahrungen gemacht. Der Plan war es, bereits auf dem Campus eine Brücke zu bauen zwischen zukünftigen Managern und Leuten, die NGOs betreuen - nicht erst danach. Angehenden Manager sollten im letzten Semester nicht bei einem Unternehmen tätig sein um zu kopieren und Kaffee zu kochen, sondern bei einer NGO arbeiten.

Das hat eine Welle der Begeisterung ausgelöst. Über 60 Prozent der Absolventen von französischen Hochschule arbeiten zum Ende der Studienzeit bei NGOs. Diese Menschen kommen mit einer ganz anderen Weltanschauung zurück. Als moderner, gebildeter Mensch. Wie viel Wissen muss man also haben um als gebildet aufzutreten? Ich würde fast sagen: So wenig wie möglich.

(NGZ)
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