Misshandlungsprozesse in Solingen und Remscheid Die Folgen eines negativen Selbstbildes

Die forensische Psychiaterin äußert sich zum gerade zu Ende gegangenen Solinger Kindsmord-Prozess als auch zu einem ähnlichen Fall in Remscheid, den sie begleitet hat. Junge Mütter waren wegen unterlassener Hilfeleistung angeklagt.

 Die Gerichtspsycahterin Dr. Nahlah Saimeh hat schon viele Straftäter begutachtet.

Die Gerichtspsycahterin Dr. Nahlah Saimeh hat schon viele Straftäter begutachtet.

Foto: Anne Orthen (ort)/Orthen, Anne (ort)

Die Gerichtspsychiaterin Dr. Nahlah Saimeh war als Sachverständige vor einigen Monaten in einen ähnlich gelagerten Remscheider Fall involviert, wie er gerade am Wuppertaler Landgericht mit Tatort Solingen verhandelt wurde. Angeklagt waren damals die Kindsmutter wegen unterlassener Hilfeleistung und deren ehemaliger Lebensgefährte wegen schwerer Kindesmisshandlung. Auch im Solinger Fall saß die 25 Jahre alte Kindsmutter wegen unterlassener Hilfeleistung auf der Anklagebank. Deren zweijährige Tochter hat die Misshandlungen des wegen Mordes angeklagten Lebensgefährten nicht überlebt.

Frau Saimeh, Sie waren intensiv mit dem Remscheider Fall befasst. Der dort angeklagte junge Mann wohnte erst drei Monate bei der Kindsmutter, deren Sohn überlebte dessen Misshandlungen nur knapp. Der 18-Jährige Solinger ist schon am Tag der ersten Begegnung bei seiner Freundin eingezogen, zwei Monate später war deren kleine Tochter tot . . .

Saimeh Oft sind in solchen Fällen die Mütter und die neuen Freunde sehr jung und mit der Elternrolle völlig überfordert. Die alleinstehende Kindsmutter sehnt sich nach einer Bindung, die Chancen für eine sehr junge Frau mit Kind, einen soliden Partner zu finden, sind nicht so groß. Dann fällt eigentlich schon ziemlich früh auf, dass der Mann gewalttätig und als Familienmitglied ungeeignet ist. Aber man will nicht wieder enttäuscht werden.

Eine Portion Pommes ausgegeben und dann schon bei Mutter und Kind einziehen: Wie lässt sich so etwas erklären ?

Saimeh Viele Menschen, die ich spreche, haben gar keine tiefere Vorstellung von einer Paarbeziehung. Sie kennen den anderen nicht. Es gibt eigentlich keine Beziehung. Der Begriff ist schon falsch.

Beide Kindsmütter sollen in der eigenen Familie Gewalterfahrungen gemacht haben. Zudem sollen bei beiden auch Vergewaltigungen in Partnerschaften eine Rolle gespielt haben.

Saimeh Eigene Gewalterfahrungen in Herkunftsfamilien führen dazu, dass das Bild vom eigenen Selbstwert sehr früh beschädigt ist. Es entstehen in der Kindheit innere Überzeugungen, eigentlich nichts wert und ein schlechter Mensch zu sein, der folglich auch schlecht behandelt werden darf.

Lässt sich so der Hang zu aggressiven Partnern erklären ?

Saimeh Der spätere Lebensgefährte bestätigt mit seinem Verhalten im Grunde nur dieses negative Selbstbild. Auf einer tieferen Ebene können sich die Frauen eine reife Beziehung gar nicht gönnen.

Hier wie dort soll die Beziehung in den ersten Wochen harmonisch gewesen sein – und dann sollen plötzlich die Kindesmisshandlungen begonnen haben.

Saimeh Beziehung ist ein Wort mit Tiefe. Die gibt es aber eigentlich nicht. Es gibt zwei Menschen, die nichts voneinander wissen. Außer vielleicht, welche Soße der andere am liebsten zu Spaghetti isst. Der andere Mensch wird weder gekannt, geschweige denn erkannt.

Sind junge Männer mit ihrer Rolle überfordert ? Oder auch damit, nicht der leibliche Vater des Kindes zu sein ?

Saimeh Man tut sich zusammen. Es gibt eine sexuelle Beziehung und vor allem eine Art selbst gesetzte Definition, dass man jetzt „zusammen“ ist. Das kann schon nicht funktionieren. Und dann kommt noch das Kind hinzu. Ein kleines Kind ist eben nicht nur niedlich, sondern in erster Linie ist es ein menschliches Wesen mit einem ganz hohen Bedarf an Fürsorge, Schutz, Nähe, Zuwendung. Die Gefahr für Misshandlungen ist im Übrigen bei genetisch nicht eigenen Kindern noch größer.

Beide Frauen haben vor Gericht ausgesagt, dass sie sich und ihr Kind nicht schützen konnten vor den aggressiven Übergriffen des Partners. In den Verhandlungen klang zuweilen durch, dass es dazu durchaus Gelegenheiten gegeben hätte. Also eine Schutzbehauptung oder falsche Selbstwahrnehmung, in der man sich als schwach empfindet ?

Saimeh Auf der einen Seite können die Partner so einschüchternd sein, dass die Frauen Angst haben. Sie sind auch nicht gewohnt, sich Hilfe zu holen. Auf der anderen Seite spielt wieder das negative Selbstbild als schwache Frau und als „schlechter Mensch“ eine Rolle, so dass der mangelnde Schutz gegenüber dem Kind später Bestandteil der massiven Schuldgefühle wird.

Denkt denn niemand an das Kind ?

Saimeh Es gibt natürlich auch noch Fälle, in denen das Kind quasi geopfert wird zugunsten des vermeintlichen Erhalts der Beziehung. Solche Konstellationen sind mir auch bekannt.

Beide Mütter sollen zum Tatzeitpunkt nicht Zuhause gewesen sein und ihrer Kinder der Obhut des Partners überlassen haben, von dem sie wussten, dass er ihrem Kind gegenüber gewalttätig werden kann. Wie lässt sich das erklären ?

Saimeh Zunächst einmal muss man klären, ob die Kindsmutter wirklich nicht da war. In den Fällen, in denen ein Kind einem gewalttätigen Partner alleine überlassen wird, können mehrere Faktoren eine Rolle spielen: die Bagatellisierung der bisherigen Gewalt nach dem Motto, er wird dem Kind heute schon nichts tun. Zweitens zumindest auf einer unbewussten Ebene die Herausforderung des Schicksals, mitunter mit dem Ziel der Selbstbestrafung.

Haben Mütter keine Schuldgefühle gegenüber dem Kind ?

Saimeh Es bleibt im Regelfall ja ein massives, dauerhaftes Schuldgefühl, das eigene Kind nicht beschützt zu haben. Da sind wir wieder beim negativen Selbstbild, das durch solche Vorkommnisse Bestätigung erfährt. Oder aber es ist die eigene Überforderung, und der aggressive Partner übernimmt eine Aufgabe, die man sich selbst nicht eingestehen will. Es sind verschiedene Konstellationen denkbar.

Das Jugendamt hatte beide Mütter und auch deren Kinder intensiv betreut. Muss man dort hellhörig werden, wenn ein neuer Partner einzieht ? Oder gibt es andere Warnzeichen, auf die man achten sollte ?

Saimeh Ich kann zur Personalsituation von Jugendämtern nichts sagen. Aber die Betreuung sehr junger Familien beziehungweise Patchworkfamilien ist zeitintensiv. Man braucht Zeit für Gespräche, um die Personen kennenzulernen. Und vielleicht verschiebt sich auch der Maßstab, wenn man sehr viel mit sehr prekären Milieus zu tun hat. Dann wird vielleicht die Gefahr in Familien, die äußerlich einigermaßen ordentlich wirken, unterschätzt.

Die Mütter wurden als kooperativ und deren Partner als freundlich beschrieben . . .

Saimeh „Freundlichkeit“ ist für mich keine Eigenschaft von Relevanz. Den meisten Menschen gelingt es, mal eine Viertelstunde „freundlich“ zu sein. Das sagt aber nichts aus. Man muss ein Bild von der Persönlichkeit der beiden Beziehungspartner und der Qualität der Beziehung bekommen und ein Bild von der Reife der Personen. Ein ernstzunehmendes Thema ist auch Alkohol- oder Drogenkonsum.

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