Remscheid Analphabeten auf die Schulbank locken

Remscheid · Stadt will mit Nachbarstädten Offensive starten, damit Erwachsene noch lesen und schreiben lernen.

Wer morgens die Zeitung liest, kann sich kaum vorstellen, dass in Remscheid hunderte Menschen leben und arbeiten, die gar nicht oder kaum lesen und schreiben können. Gebrauchsanleitungen, Warnhinweise, Preisschilder vor der Schaufensterpuppe, die Überweisung zum Facharzt, den Beipackzettel des Medikaments, Internet, SMS geschweige denn Bücher bleiben für sie ein Geheimnis. Es sind weder Flüchtlinge noch Zugewanderte noch Menschen mit geistiger Behinderung, sondern Deutsche, die hier aufgewachsen sind.

Sie haben sich der Schulpflicht entzogen und wenden aus Scham allerlei Tricks an, damit im Alltag nicht auffällt, dass sie Analphabeten sind. "Manchmal bis zur Rente", sagt Rudi Eickelpoth, Bereichsleiter bei der Volkshochschule Remscheid. Die bietet jedes Semester einen Alphabetisierungskurs an. Innerhalb von zwei Jahren lernen die Teilnehmer lesen und schreiben, manche schaffen später noch gute Bildungsabschlüsse.

Irgendwie sind Analphabeten durch das enge Netz gerutscht, das die Schulpflicht in Deutschland spannt. Es seien gebrochene Schulbiografien - aufgrund längerer Krankheit, von Umzügen und weil Elternhäuser, in denen Bildung kaum eine Rolle spielt, es dulden, dass ihre Kinder nicht zur Schule gehen. Sie konsequent in den Unterricht zu zwingen, bedeute jedoch einen hohen Aufwand. Deutschlandweit gibt es geschätzt rund zwei Millionen Erwachsene, die als totale Analphabeten gelten, weitere acht Millionen können ihren Namen und Adresse schreiben, aber keinen vollständigen Satz, berichtete Nicole Grüdl-Jakobs, Leiterin des Kommunalen Bildungszentrums, in der Sitzung des Integrationsrates. Viele hätten einen Job, arbeiteten aber eher im Niedriglohnsektor oder bei Zeitarbeitsfirmen.

Die bergischen Großstädte wollen diese Menschen motivieren, Versäumtes nachzuholen. Mit dem "Bergischen Bündnis für Alphabetisierung und Grundbildung" sollen Angebote durch Vernetzung ausgeweitet und Fördertöpfe erschlossen werden, sagte Grüdl-Jakobs. Wichtig sei, Analphabeten nicht zu diskriminieren, sondern behutsam auf sie zuzugehen. Dazu benötigen die Behörden Hinweise von "Mitwissern", von Firmen oder Betriebsräten, stellt Radka Lemmen, Leiterin des Fachbereichs Fremdsprachen an der VHS, fest. Denn Analphabeten entwickeln Strategien, um fehlende Kenntnisse zu vertuschen: Bei der Dokumentation der geleisteten Arbeit bittet die Reinigungskraft ihre Kollegin den Bogen auszufüllen. Im Jobcenter erscheint der Hartz IV-Empfänger mit Gipsarm und bittet den Mitarbeiter, das Formular auszufüllen. Viele geben vor, ihre Brille vergessen zu haben.

Im Herbst soll es eine große Infoveranstaltung zum Thema Alphabetisierung geben. "Wir brauchen Partner wie Arbeitsagentur, Jobcenter, IHK, Wirtschaftsjunioren, um die Alphabetisierung und Grundbildung zu fördern", sagte Grüdl-Jakobs.

Kontakt unter Tel. 02191 16 3537.

(RP)
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