Warum schlägt Ihr Herz für West?
Ratingen Ein Stadtteil wird zum Kunstobjekt
Ratingen · Künstlerin Anne Schülke hat eine besondere Sicht auf Ratingen West und macht den Stadtteil zum Kunstschauplatz. Nach einer Veranstaltungsreihe in diesem Jahr sind für 2022 weitere Aktionen geplant.
Schülke Das mit dem schlagenden Herzen ist so eine Sache: Als ich eine Ausstellung über die Geschichte der Neuen Heimat – die gewerkschaftseigene Baugesellschaft, die Ratingen-West in den 1960ern geplant und gebaut hat – im Hamburgischen Museum für Geschichte gesehen habe, blieb ich vor jedem dritten Foto stehen und sagte: Das ist in Ratingen-West. Da waren Kinder auf einem Spielplatz, ein Schulgebäude oder eine Einkaufspassage zu sehen. Aber es war nicht in Ratingen. Großwohnsiedlungen sehen sich zum Verwechseln ähnlich. Also, ehrlich gesagt, hätte ich auch in Großwohnsiedlungen in Bielefeld, Hamburg oder München arbeiten können. Ich hätte ähnliche Rhythmen, Farben und Formen entwickelt.
Wie finden Sie den Zugang zu den Menschen in Ratingen West?
Anne Schülke Kontakt zum Viertel habe ich durch Spaziergänge und Fahrradtouren aufgenommen. Mit einer Sofortbildkamera. Ich bleibe stehen, fotografiere, das Geräusch sorgt für Aufsehen, die Bildentwicklung dauert etwas. Menschen schauen mir zu oder sprechen mich an. Das sind keine dauerhaften Kontakte, aber ich bekomme ein Gefühl für den Ort und manchmal begegnen wir uns wieder. Der tiefere Einstieg läuft über Institutionen und kleinere Einrichtungen: Museen, Archive, Schulen, Stadtteiltreffs, auch Geschäfte. Dort treffe ich unterschiedlichste Menschen. Manche öffnen sich und treten in Kontakt mit den Fragen, die ich mitbringe. Andere nicht. Manchmal bleibe ich hartnäckig und insistiere, manchmal lasse ich los und gehe weiter. Im Fall der LEG, der Landesentwicklungsgesellschaft, der viele Gebäude in Ratingen-West gehören und die großen Einfluss auf die Entwicklungen im Stadtteil hat, habe ich losgelassen.
Wie empfinden Sie es, wenn Sie heute nach West zurückkehren?
Schülke Tatsächlich war ich bereits 2006 oder 2007 schon mal mit einer Kamera in West. Eine Kollegin von mir, eine Malerin aus Florenz, wollte sehen, wo ich aufgewachsen bin. Dann sind wir nach Florenz gefahren, wo sie aufgewachsen ist. Ein Kontrast in der jeder Hinsicht. Ihre Familie ist wohlhabend. In ihrer Villa in Viareggio hängen überall Gemälde. In Florenz begegnet man an jeder Ecke einer berühmten Skulptur oder einem architekturhistorisch bedeutenden Gebäude. Eine bestimmte Form der Kunst ist dort Alltag. Meine Freundin langweilte das. Sie fand Ratingen-West und die Einflüsse des Brutalismus und des Bauhaus aufregend. Mich interessierte das vor zehn Jahren noch nicht. Als ich 2019 wiederkam, war das anders. Vor allem das Wandbild von Vaclav Snop an der Westtangente gefiel mir gut. Eine so große und gut erhaltene Wandarbeit aus den 1970er Jahren ist selten. Ich erinnerte mich daran, wie wir abends mit dem Auto daran vorbeifuhren und die Straßenlaternen einzelne Ausschnitte beleuchteten. Visuell berührte mich die Arbeit und ich übertrug Farben, Formen und Rhythmen dann in die Videoinstallation „Westtangente“.
Was empfinden sie positiv an dem Stadtteil?
Schülke Ich mag vor allem die Architektur. Die ehemaligen Papageien-Häuser. Den Berliner Platz. Die Situation am Schwanenteich. Den Lindwurm. Das Wandbild von Vaclav Snop an der Westtangente.
Warum kann Kunst auch in West zuh Hause sein?
Schülke Kunst kann man an unterschiedlichsten Orten sehen, nicht nur im Museum. Kunst im Museum hat eine andere Rahmung als Kunst im öffentlichen Raum: Besucher betreten die Räume eines Museums und rechnen damit, dass sie Kunst sehen. Es muss ihnen nicht gefallen, was sie sehen, aber sie sind schon mal in einer Auseinandersetzung mit institutionellem Wissen. Kuratoren, Kunsthistoriker, Kunstpädagogen bieten Texte, Führungen und Workshops an. Wenn ich im Mosaik Einkaufszentrum in West einkaufe und Poster in einem Fenster sehe oder Keramiken in einer Auslage, ist da weniger Sicherheit, ob ich gerade Kunst begegne. Das könnte ja auch aus einem Workshop oder aus der Schule oder Werbung oder Ware sein. Die Arbeiten der Künstler sind der öffentlichen Situation und dem Zufall ausgesetzt.
Wie kommt es zu dem Titel „Papageien und Schwäne“?
Schülke Die Himmelshäuser, die das Einkaufszentrum umschließen, wurden von ehemaligen Bewohnern Papageienhäuser genannt. Der Architekt Vaclav Snop hat sie gestaltet und sie an den Farben des Sonnenuntergangs orientiert: Rot, orange und dunkelgelb. Der Teich, der hinter dem Ensemble liegt, heißt Schwanenteich. Nach der zweiten Tour durch West war schnell klar: Ich beschäftige mich den Situationen rund um die Papageienhäuser und den Schwanenteich. Daraus ergab sich der Titel. Papageien und Schwäne.
Wie war die Resonanz auf die bisherigen Aktionen?
Schülke Der Lockdown und die Einschränkungen des öffentlichen Lebens haben uns voll erwischt. Die Präsentation im Museum konnte stattfinden, allerdings ohne Eröffnung und ab der zweiten Woche nur noch mit Test. Auch die Eröffnung von Katharina Maderthaners Installation fand im kleinen Kreis statt. Der Vortrag des Kurators Roman Zhelznayk im Gemeindesaal des ökumenischen Kirchenzentrums war ein Hybrid: Einige wenige Menschen saßen in der Kirche und der Vortrag und die Musik wurden parallel live auf YouTube übertragen. Online haben sich bisher mehr als 200 Menschen Roman Zheleznyaks Gedanken und Playlist angehört. Zu den Reaktionen zähle ich auch die Kooperationsbereitschaft der Menschen: Das sind zum Beispiel der Sozialpädagoge Jaroslaw Gerlaczka, Kantor Martin Hanke und Pfarrer Mathias Leithe, Kuratorin Anne Rodler oder die Bildhauerin Monika Sowa. Sie alle unterstützen dieses Vorhaben und ermöglichen, dass es sich weiterentwickelt.
Muss Kunst immer „schön“ sein?
Schülke Wer sagt, was schön ist? Wer entscheidet das? Meistens Menschen, die mehr Macht haben als andere. Gleichzeitig haben Mode, Design und auch Kunst Schlupflöcher. Es setzen sich manchmal Sachen durch, die lange viele Menschen hässlich oder unbedeutend fanden. Was mich als Künstlerin mehr interessiert als die Frage nach der Schönheit ist das Verhältnis von Kunst und Erkenntnis. Als Künstlerin bin ich nicht auf der Suche nach Schönheit. Ich habe eine Frage oder Idee und suche nach Formen, mit denen ich kommunizieren kann. Auch das Projekt Papageien und Schwäne hat etwas mit Erkennen, mit Beobachten und Kommentieren zu tun.
Was erwartet die Besucher bei Ihrer Videoinstallation?
Schülke Videoinstallationen sind raumbezogene Videoarbeiten. Ich zeige drei Videos mit drei Beamern, die synchron laufen und in einer Endlosschleife eine 18-minütige Bilderfolge mit Sound unterbrochen von Stille abspielen. Auf dem Berliner Platz werde ich nächstes Jahr drei türgroße Plexiglasscheiben auf Stahlgestellen rund um den Brunnen gegenüber dem Bürgerhaus stellen. Besucher können sich um den Brunnen herumbewegen und die Bilder sehen. Gleichzeitig hören sie den Sound – eine rhythmische Sequenz des Künstlers und Musikers Detlef Klepsch und meine Stimme – und sie sehen die anderen Menschen und Tiere auf dem Platz, die Geschäfte, die Wohnhäuser. Das Material ist dort entstanden, wo ich es zeige. Während der Projektion auf dem Platz lassen sich im günstigen Fall Produktionsprozess und Produkt nicht eindeutig voneinander trennen.