Sport in der Pandemie „Sport ist auch Bildung“

Ratingen · Ralf Kastner vom TV Ratingen appelliert an Eltern, ihre Kinder nach dem Lockdown wieder in die Sportvereine zu schicken. Generell sei Bewegung wichtig, aber wenn die Grundlagen vor allem beim Schwimmen fehlen, könne es irgendwann sogar lebensgefährlich werden.

 Ralf Kastner ist seit 20 Jahren beim TV Ratingen und unter anderem Fachbereichsleiter KISS und Abteilungsleiter Schwimmen.

Ralf Kastner ist seit 20 Jahren beim TV Ratingen und unter anderem Fachbereichsleiter KISS und Abteilungsleiter Schwimmen.

Foto: Blazy, Achim (abz)

Als zweifacher Familienvater weiß Ralf Kastner um die Tücken und Probleme beim Home-Schooling – reibungslos läuft es in Sachen digitaler Unterricht jedenfalls bei seinen Kindern auf einer weiterführenden Schule nicht. Da sind die Sportvereine oft weiter, die meisten haben ihr Angebot seit dem ersten Lockdown im März des Vorjahres internettauglich gesaltet. So auch Kastners TV Ratingen. „Wir haben zwei Zoom-Accounts gekauft, mit denen wir unbegrenzt unser virtuelles Programm anbieten können“, erklärt der Fachbereichsleiter Kinder- und Schülersport (KISS) beim TVR und ergänzt: „Wir haben einen fast reinen Kinder-Account aus dem Bewegungsraum in Ratingen Mitte. Da kriegen auch nur Kinder eine ID und Zugangsdaten, die wir kennen, damit niemand Fremdes da teilnehmen kann. Der zweite Account kommt aus dem Studio in Ost für Erwachsene. Da ist auch der Reha-Sport hinzugekommen. Dazu gibt es noch Videos über Vimeo, die Übungen zeigen, die die Teilnehmer nachmachen können.“

Nun ist Kastner beim TVR aber auch Leiter der Schwimmabteilung, und gerade da ist es durch die Einschränkungen in der Pandemie trotz aller virtuellen Angebote schwierig, da die Bäder zu sind. „Monika Baron hat für uns Übungsvideos gemacht, wo es um die allgemeine Motorik, Körperspannung und koordinative Fähigkeiten geht– aber am Ende des Tages fehlt der Transfer ins Wasser, in dieses besondere Element. Das ist echt schwer, einem Fünfjährigen zu erklären, dass er sich so und so im Wasser bewegen soll, ohne dass Wasser da ist“, berichtet Kastner. Der Deutsche Schwimm-Verband rechnet im schlimmsten Fall mit bis zu 20.000 Kindern, die allein in NRW im Jahr 2020 das Schwimmen nicht erlernen konnten (siehe Info-Kasten). Und anders als bei anderen Sportarten kann es im Schwimmen lebensgefährlich werden, hier keine Grundlagen zu haben.

Vor allem deswegen sagt Kastner: „Mir ist wichtig, dass alle Kinder schwimmen lernen. Zwar schrumpft auch unsere Wettkampf-Gruppe ein wenig aufgrund einer üblichen Fluktuation, aber das darf auch mal sein. Aber wenn du generell nicht schwimmen kannst, kann es lebensgefährlich werden. Deswegen machen Kinder bei uns im Schnitt ein Jahr eine Schwimm-Ausbildung über drei Stufen. Üblicherweise nehmen wir pro Tertial 30 bis 40 Seepferdchen ab.“ Das ist aktuell nicht mehr möglich, weshalb der TVR auch die Wartelisten geschlossen hat. „Normalerweise muss man bei uns schon neun bis zwölf Monate auf einen Schwimmplatz warten, was bereits lang ist“, sagt Kastner. „Aber jetzt wäre die Wartezeit irgendwo bei 19 Monaten. Wir sind an unserem Kapazitätsmaximum und können in diesem längsten Lockdown für den Sport gerade keine Seepferdchen abnehmen. Die Kinder sind echt gebeutelt.“ Rund 130 Kinder hat der TVR im Anfängerbereich, hinzu kommen etwa 80 Wettkampf-Schwimmer und rund 300 Erwachsene.

Trotz Hygienekonzepten und dem Faktor Chlorwasser, der eine Corona-Infektion beim Schwimmen laut Studien unwahrscheinlich bis unmöglich erscheinen lässt, dürfen die Sportvereine nicht in die Bäder – Schulen hingegen schon. Kastner weiß, dass nicht alle Einrichtungen das Angebot nutzen und denkt über ein Modell nach, wie Vereine Schulen dabei unterstützen können. „Der Transfer zu den Bädern wäre von den Schulen geregelt, wir könnten dann die Fachkräfte stellen, die auch rettungstechnisch ausgebildet sind. Hauptsache, die Kinder kommen in die Bäder“, sagt Kastner.

Der Diplom-Sportlehrer weiß um die Bedeutung der koordinativen Ausbildung: „Wenn ein Kind nicht rückwärts laufen kann – wie soll es dann rückwärts schwimmen?“, fragt er rhetorisch. Beim TVR müssten die Kinder im Zuge der Schwimm-Ausbildung auch einen „Hampelmann“ machen können oder die Arme vorwärts und rückwärts drehen können. „Da sieht man mitunter schon komische Sachen“, sagt Kastner und betont: „Deswegen ist die Grundlagenausbildung so wichtig – unabhängig vom Schwimmen. Dass wir Videos und Zoom-Meetings haben, ist super, aber es kann keiner die Ausführung kontrollieren. Das ersetzt letztlich die Halle nicht.“

Das Stichwort Grundlagenausbildung beinhaltet einen Teil, den Kastner noch herausstellt: „Sport ist auch Bildung“, sagt der 47-Jährige und erklärt: „Es gibt so viele wissenschaftlich belegte Zusammenhänge zwischen Ausdauer und Leistung. Fitte Kinder und Erwachsene sind leistungsfähiger in der Schule oder im Beruf, die Konzentrationsfähigkeit ist deutlich höher. Bewegung hilft beim Lernen, denn Bewegung lernen ist schließlich auch eine Form von lernen.“ Als Beispiel nennt Kastner die „Differenzierungsfähigkeit. Zum Beispiel: Wie hart werfe ich einen Ball? Übertragen bedeutet das: Nur, weil ich meinen Stift so feste aufdrücken kann, dass er durch das Papier geht, heißt das noch nicht, dass ich meinen Namen schreiben kann. Da geht es um Differenzierung und Feinmotorik. Das lernt man auch im Sport.“

Gleiches gelte für Werte, die der Sport vermittele: „Diese ganzen Lern­aspekte auch im Miteinander sind wichtig für die soziale Entwicklung. Regeln lernen und sie einhalten, Gruppendynamik, Teamfähigkeit, Rücksicht auf die Schwächsten nehmen – da entsteht Gemeinschaft“, betont Kastner, der mit dem KISS des TVR dafür etliche altersgerechte Angebote hat.

Die aber natürlich derzeit aufgrund der Pandemie arg eingeschränkt sind. „Wir sind mit der Stadt im ständigen Kontakt“, sagt Kastner. „Alle Hallen wurden überprüft, alle werden ausreichend belüftet. Wir haben Hygienekonzepte und Desinfektionsmittel. Sobald wir wieder Sport vor Ort anbieten können, stehen wir parat. Die Übungsleiter scharren mit den Hufen, denn ihnen fehlen die Kinder – es ist ja ihre Passion, mit ihnen gemeinsam in der Halle stehen zu können.“ Rund 2000 Kinder sind Mitglied beim TVR, wöchentlich kommen derzeit 150 in Zoom-Meetings zusammen, plus noch einmal rund 300, die von den Fachbereichen online trainiert werden. „Der TV Ratingen steht für Bewegung von Kindesbeinen an“, sagt Kastner und ergänzt: „Als Sportlehrer sehe ich ganz klar, dass es so wichtig ist, dass Kinder sich bewegen. Deswegen kann ich nur den dringenden Appell an alle Eltern geben: Schickt eure Kinder wieder zum Sport, sobald wir ihn wieder vor Ort anbieten dürfen.“ Bis dahin geht es im Home-Training weiter, das immerhin besser zu funktionieren zu scheint als so manches Home-Schooling.

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