Ein Dilemma Klimaschutz contra Wohnungsbau

Ratingen · Ratingen will spätestens 2045 klimaneutral sein – so will es das Klimaschutzkonzept, das die Stadt 2017 beschlossen hat. Gleichzeitig soll der Wohnungsbau vorangetrieben werden. Zwei Ziele, die nach Ansicht von Ulrich Otte, Vorstandsmitglied des Ratinger Klimabeirats, kaum unter einen Hut zu bekommen sind. Er erklärt, warum.

Ein Investor will an der Mülheimer Straße rund 100 neue Wohnungen errichten. Häuser an der Straße sollen saniert, Hinterhöfe neu bebaut werden.

Ein Investor will an der Mülheimer Straße rund 100 neue Wohnungen errichten. Häuser an der Straße sollen saniert, Hinterhöfe neu bebaut werden.

Foto: Achim Blazy (abz)

() „Die Diskussion in Ratsausschüssen und der Presse um den vorhabenbezogenen Bebauungsplan an der Mülheimer Straße zeigt exemplarisch ein Dilemma auf, das zwischen Klimaschutz/Klimaanpassung einerseits und den von Politik und Stadtgesellschaft geforderten Bemühungen um weiteren Wohnungsbau auf der anderen Seite existiert. Die Erreichung beider Ziele ist eminent wichtig für die Zukunft unserer Gesellschaft; gleichwohl existiert hier ein Zielkonflikt grundsätzlicher Art. Dieser wird von Politik, Gesellschaft und Wirtschaft nur oberflächlich adressiert.

Auf der einen Seite möchten die städtischen Akteure beispielgebend und Vorreiter für die Öffentlichkeit beim Klimaschutz und der Klimaanpassung sein. Angesichts der noch nicht erfolgten und nur langsam voranschreitenden Transformation aus der fossilenergiegetriebenen Industrie und Gesellschaft in das post-fossile Zeitalter führt gegenwärtig und für die nächsten zwei oder drei Jahrzehnte fast jede Bautätigkeit jedoch zu mehr CO2-Emissionen und nicht zu weniger. Der Klimaschutz, messbar in weniger Tonnen CO2-Emissionen in Ratingen, wird aus meiner Sicht so keinen substanziellen Fortschritt machen können. CO2-Neutralität als Wunschziel für Ratingen in einem nicht zu fernen Zeitpunkt wird demzufolge mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht erreicht.

Global betrachtet sind Bauaktivitäten für rund 35 bis 40 Prozent aller CO2-Emissionen ursächlich, rechnet man Nutzung und Betrieb von Gebäuden in die Bilanz hinein. In Deutschland existieren ähnliche Relationen. Für die Produktion, Baumaterialien, Energie, Verkehr und Errichtung von Gebäuden, inklusive Modernisierung im Bestand, werden rund 100 Millionen Tonnen CO2-Äquivalente kalkuliert.

Mehr Menschen beanspruchen mehr Wohnungen, sie benötigen Energie, Nahrung, Mobilität, Infrastruktur jedweder Art. Überall auf der Erde. Ob man diese aus der Dynamik des globalen Bevölkerungswachstums resultierenden Zusammenhänge auf Ratingen abbilden möchte, ist eine politische Entscheidung. Vor dem Hintergrund der erforderlichen Reduzierung der CO2-Emissionen – das wäre Klimaschutz – ist es dabei fast nachrangig, ob die weitere Wohnbebauung als innerstädtische Nachverdichtung oder im Außenbereich (Versiegelung bis dato freier Flächen) stattfindet.

Die für Ratingen erstellte Klimaanalyse zeigt für ausgewählte Klimaparameter und relevante Wetterlagen sowie Zeiträume das gegenwärtige städtische Klima in seiner komplexen Differenzierung. Wo befinden sich potenziell überhitzte Bereiche, wo sind kompakte und klimawirksame Grünflächen, wo solche nur noch rudimentären Charakters. Die Klimaanalyse ist also ein Planungsinstrument aus dem Baukasten der Klimaanpassung, das bei Anwendung und Berücksichtigung im Planungsprozess verhindern kann, dass aus einer noch locker strukturierten innerstädtischen Wärmeinsel noch nicht kritischer Intensität eine größere wird, in der nächtliche Abkühlung und ausreichende Durchlüftung nicht mehr gewährleistet sind. Zumal vor dem Hintergrund zukünftig weiter steigender Temperaturen, die dann über Diskomfort bis hin zu gesundheitlicher Belastung und Gefährdung der dort Wohnenden führen kann.

Durch zu umfangreiche Nachverdichtung, zum Beispiel durch Wohnbebauung, wird eine solche Entwicklung jedoch gefördert beziehungsweise erzeugt. Energetisch optimierte Baukörper, ein ausgewogenes Maß an Dachbegrünung ohne oder mit Fotovoltaik auf den Dächern und weitere Maßnahmen können die verstärkte Wärmeinselwirkung durch eine Bebauung innerstädtischer Baulücken und Brachflächen zwar verringern, aber nicht gänzlich ausschließen.

Eine Forderung des Klimabeirates in diesem Kontext ist, für solche Projekte der Nachverdichtung einen maximalen Versiegelungsgrad zu definieren. Als Instrument dazu eignet sich die städtische Klimaanalyse. Auf deren Grundlage können situationsbezogen maximale Versiegelungsgrade als für die weitere Planung verbindliche Kenngrößen definiert werden.

Im Kontext mit (partieller) Entsiegelung von nicht mehr unter Nutzung stehenden gewerblichen Flächen und/ oder deren Konversion in Wohnbauflächen ist sodann aus der Sicht des Klimabeirates ein Kompromiss vorstellbar, in dem auch Aspekte des Klimaschutzes, insbesondere aber der Klimaanpassung, sichtbar werden. Bisher ist das bei weitem nicht der Fall.“

(RP/abin )
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