Ratingen "Industriedorf" als Idylle und Gewaltraum

Ratingen · In seiner neue Studie "Nationalsozialismus im Industriedorf. Die Ortschaft Lintorf im Gau Düsseldorf 1930-1945" wertet der Lintorfer Historiker Dr. Bastian Fleermann bisher unerforschte Quellen aus.

Potenziellen Reaktionen auf sein Buch — prinzipielles Desinteresse oder die Formel: "Das ist so lange her, das will keiner mehr wissen" — begegnet Autor Bastian Fleermann vorab: "Das Thema Nationalsozialismus wird erst dann beendet sein, wenn niemand mehr Fragen dazu stellt." Davon ist der Historiker, Jahrgang 1978, selbst denkbar weit entfernt. In der Schriftenreihe des Stadtarchivs ist sein Buch "Nationalsozialismus im Industriedorf. Die Ortschaft Lintorf im Gau Düsseldorf 1930-1945" erschienen. Der gebürtige Lintorfer nennt es in der Einleitung eine "exemplarische Fallstudie". Diesen hohen Anspruch löst das Buch auf jeder seiner knapp 200 Seiten ein.

Dafür sorgen vorderhand die ausgewerteten Quellen, die erstmals in dieser Zusammenschau gesichtet werden konnten. Fleermann stützt sein wirtschafts- und sozialgeschichtlich zentriertes Werk unter anderem auf den großen Aktenbestand des Amtes Ratingen-Land (später Angerland) und auf die Akten der Gestapo Düsseldorf. Zur Verfügung standen ihm weiterhin die Lintorfer Pfarrarchive, Schulchroniken und das Archiv der Lintorfer Heimatfreunde. Das Material dient Fleermann dazu, den Lintorfer Alltag während der Nazidiktatur in seiner markanten Doppelgesichtigkeit zu schildern: "Der Ort hatte alle Gesichter menschlichen Handelns offengelegt; er hatte sich als Idylle und Gewaltraum gleichermaßen erwiesen. Seine Bewohner hatten sich angepasst oder waren resistent und widerständig gewesen, manche waren Profiteure und Denunzianten, andere Helfer und Retter, waren Aufrichtige oder Heuchler geworden, Tapfere oder Ängstliche, Hassende und heimlich Leidende." Den Fluchtpunkt für die Schilderung von Einzelschicksalen verfolgter Kommunisten, Juden, Psychiatriepatienten, Opfern des Alltagsterrors, markiert für Fleermann die sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Einordnung des Ortes Lintorf — nicht nur bezogen auf die NS-Organisationsstrukturen, auf Machtübernahme und Gleichschaltung. Die Bezeichnung "Industriedorf" im Buchtitel sei durchaus provokant gemeint, wiewohl tragfähig: "In der Erinnerung lebt Lintorf oft als Bauerndorf — aber das trifft so nicht zu", sagte er bei der Buchvorstellung im Stadtarchiv. "Spätestens seit 1930 war Lintorf kein Bauerndorf mehr." 65 Prozent der Werktätigen waren in der regionalen industriellen Produktion tätig, nicht in der Landwirtschaft. Fleermann arbeitet präzise die beiden vor 1933 prägenden Lintorfer Milieus heraus: katholisch-kirchlich geprägte Gruppen standen (kommunistisch organisierte) Industriearbeiter entgegen. Eine Besonderheit: "Zwischen 1928 und 1933 ist zu beobachten, wie die Sozialdemokratie der vollständigen Bedeutungslosigkeit zusteuerte." Zusammen mit zunehmender Radikalisierung der Lintorfer Arbeiterschaft ergab sich "die Ausgangslage für den aufsteigenden Nationalsozialismus". Neu ist auch für den Historiker die Bedeutung, die Lintorf als Rückzugsraum für verfolgte Kommunisten spielte. Und trotz der tiefen Milieu-Verankerungen der Lintorfer gelang der NSDAP der Aufstieg. Rein historisch-wissenschaftlich betrachtet findet es der Autor "nicht überraschend, dass es systematische Verbrechen im eigenen Heimatort" gab. "Dennoch: Gerade weil es der eigene Heimatort ist, lassen diese Fakten einen Forscher nicht unberührt", sagt er über seinen persönlichen Zugang zu seinem Thema.

Im vierten Kapitel richtet er den Blick auf "Terror, Verfolgung und Resistenzen". Beispielhaft für die Zeit der brutalen Verhaftungswellen nach dem Reichstagsbrand 1933 rekonstruiert Fleermann Fälle wie das Schicksal des KPD-Funktionärs Dietrich H. Die Düsseldorfer Politische Polizei (später Gestapo) nahm ihn am 28. Februar in sogenannte "Schutzhaft", die zunächst bis 17. April dauerte. Ein Schicksal aus Akten zu rekonstruieren — die systematische Zerstörung eines Lebens durch perfides Zusammenwirken von Bürokratie und Brutalität — gelingt Fleermann eindringlich in seiner Schilderung des "Falles" Richard K., Jahrgang 1907. Aus nichtigem Anlass denunziert, wird der Ziegeleiarbeiter K. am 24. Oktober 1939 in Lintorf inhaftiert und verhört. Am 27. Oktober gehen Berichte an die Ratinger Amtsverwaltung und den Düsseldorfer Landrat. Am 28. Oktober kommt K. ins Düsseldorfer Polizeigefängnis, bereits zwei Tage zuvor hatte die Gestapo eine Personalakte angelegt. Am 8. November beantragt die Gestapo eine "Inschutzhaftnahme" — was gleichbedeutend ist mit der Deportation in ein Konzentrationslager. Am 18. November ordnet Sicherheitspolizeichef Reinhard Heydrich von Berlin aus "Schutzhaft" gegen den Lintorfer an. Am 22. Januar 1940 fährt ein "Sammeltransport" von Düsseldorf aus nach Oranienburg, in das Konzentrationslager Sachsenhausen. Hier trifft Richard K. am 23. Januar ein, wird in ein Strafkommando beordert. Das bedeutet "Schwerstarbeit im Laufschritt, schwerste Misshandlungen und Essensentzug". Noch Anfang Februar versuchen die Eltern des geschundenen Häftlings zu intervenieren, bitten vergeblich um die Freilassung ihres Sohnes. Für den 5. März verzeichnet das Oranienburger Standesamt den Tod des 32-Jährigen. Auch den letzten Akteneintrag dokumentiert die Studie. Der Düsseldorfer Gestapobeamte meldet Richtung Berlin: "Ich habe die hiesige Schutzhaftakte abgeschlossen." Bastian Fleermann bewertet seine Befunde nur sehr zurückhaltend. "Unangenehm, aber schnell überwunden" seien nach dem Krieg die Entnazifizierungsverfahren abgelaufen. Eine Frage bleibt für ihn aus quellenkundlicher Sicht unbeantwortbar: Wie die Opfer des Regimes und die ehemaligen Schergen "wieder zu einem gemeinsamen Alltag im Dorf gefunden haben". Dies bleibe Teil der "mündlichen Überlieferung, des kommunikativen Gedächtnisses".

(RP/ac)
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