Ratingen Ein anderer Mensch sein
Ratingen · Meist fahren wir abends los und durchqueren Paris dann bei Nacht. Wenn die Sonne aufgeht, überqueren wir die Loire und gegen Mittag sind wir an der Atlantikküste. Der kleine Noah mit seinen Engelslocken kommt uns entgegen.
Er kann jetzt schon selber laufen! Ich setze mich aufs Rad und drehe eine erste Runde: die vertrauten Wege, die geliebten kleinen Häfen an der Seudre. Ich bin nur zehn Autostunden von Lintorf entfernt, und doch spüre ich: Hier bin ich ein anderer Mensch. Kein Telefon und kein Terminkalender, die mich bedrängen, keine Emails, die beantwortet werden müssen. Ich bestelle sechs Austern, bekomme Brot, Butter, Zitrone und ein Glas kühlen Weißwein dazu.
Hier am Hafen gibt es keine Tischdecken. Der Boden liegt voller Austernschalen. Es riecht brackig, denn es ist Ebbe. Ich bin eingetaucht in mein 'anderes Leben', lasse es auf mich wirken, höre die Schreie der Möwen, der Seidenreiher und erlebe genau das, wonach ich mich zu Hause in manch dunkler Winterstunde gesehnt hatte.
Ein anderer Mensch sein – in der Bibel spielt das eine große Rolle. Manch einer kann sich das gar nicht vorstellen! Sie oder er oder beide können fahren bis zum fernsten Ort der Erde ("Land's end"), können sich in immer neue Beziehungsabenteuer stürzen – doch die alten Probleme laufen förmlich hinterher und holen einen schnell wieder ein. Man bleibt doch immer derselbe. Unentrinnbar.
Ein anderer Mensch sein. Geht das? Wo erlebe ich das sonst noch? Zum Beispiel in einem Gespräch. Wenn ich mich auf die Gedanken und Gefühle meines Gegenübers ganz einlasse. Auch im Gespräch mit Gott. Wenn man nicht meint, man müsse immer nur reden und den anderen von seiner Meinung überzeugen, sondern wenn man sich im Angesicht, im Blick eines anderen wiederfindet.
All das, was eben noch unüberwindlich schien, ist urplötzlich vorbei. Eben noch war ich gefangen in den immer gleichen Sorgen und Vorwürfen, doch plötzlich bin ich frei – wie neu geboren. Nur weil mir jemand signalisiert, dass ich so, wie ich bin, vor ihm bestehen kann.
Das ist wie einmal gestorben und wieder neu ins Leben gekommen. In biblischer Sprache klingt das so: "Ist jemand in Christus, so ist er wie neu geboren. Das Alte ist vergangen – siehe, Neues ist geworden." So Paulus im zweiten Brief an die junge christliche Gemeinde in Korinth. Es geht.
Frank Wächtershäuser, Pfarrer in Lintorf
