Radevormwald Quälende Selbstvorwürfe ablegen lernen

Radevormwald · Eine neue Selbsthilfegruppe in den Räumen des Ambulanten Ökumenischen Hospizvereins richtet sich gezielt an Angehörige und Freunde von Menschen, die Suizid begangen haben.

 Christine Toth hat im September 2022 eine Selbsthilfegruppe für Angehörige und Freunde von Suizid-Opfern gegründet.

Christine Toth hat im September 2022 eine Selbsthilfegruppe für Angehörige und Freunde von Suizid-Opfern gegründet.

Foto: Wolfgang Weitzdörfer

Es ist eine Situation, die man sich kaum vorstellen mag – oder kann. Ein naher Angehöriger oder Freund nimmt sich das Leben. Im Leben der Hinterbliebenen ist danach nichts mehr wie vorher. In solchen Ausnahmefällen ist es wichtig, Ansprechpartner zu haben.

Eine Möglichkeit ist es, eine Therapie zu beginnen. Allerdings ist das in der heutigen Zeit kurzfristig kaum möglich. Eine andere Möglichkeit sind Selbsthilfegruppen. Wie die, die im September in Radevormwald von Christine Toth ins Leben gerufen wurde. „Ich bin selbst Betroffene, ich habe 2015 einen Angehörigen durch Suizid verloren. Um damit umzugehen bin ich auf den Verein AGUS, das Akronym steht für Angehörige um Suizid, gestoßen, der 1995 in Bayreuth gegründet wurde“, sagt die Radevormwalderin.

Sie selbst habe immer bis nach Wuppertal fahren müssen, um an Treffen der nächstgelegenen Selbsthilfegruppe teilnehmen zu können. „Ich habe mir dann gedacht, dass das doch eigentlich zu weit weg von Radevomrwald ist. Aber es gab hier vorher nichts“, sagt sie. Sie habe sich in der Folge an AGUS gewendet, wo man sie bei der Herstellung von Flyern unterstützt habe. „Ich habe meine Anfrage dann auch an die Stadtverwaltung gerichtet. Dort hat man mich an den Verein ‚aktiv55plus‘ verwiesen, von dort dann wiederum zum Ambulanten Ökumenischen Hospizverein“, sagt Christine Toth. Die Koordinatorin Marina Weidner habe sie bereits von früher gekannt – und so sei dann die Zusammenarbeit mit dem Hospizverein entstanden. „Wir stellen der Selbsthilfegruppe jeden ersten Dienstag im Monat unsere Räume für ihre Treffen zur Verfügung“, sagt Marina Weidner.

„Wir sind eine gemischte Gruppe, die völlig offen für jeden Betroffenen ist. Allerdings wäre es mir persönlich lieb, wenn man sich bei Interesse zunächst einmal am Telefon unterhalten könnte“, sagt Christine Toth, die selbst als Suchttherapeutin arbeitet. Es gehe um Entlastung, die Trauer nach einem Suizid sei anders als nach einem anderen Todesfall. „Ein ganz großes Thema ist, dass sich die Angehörigen oft riesige Vorwürfe machen“, sagt Christine Toth. Die Fragen, ob man etwas hätte machen können, ob man den Suizid hätte verhindern können, würden die Angehörigen oft jahrelang quälen.

Sie habe eine Frau in einer Selbsthilfegruppe erlebt, die sich lange Zeit selbst vorgehalten habe, dass sie den Suizid eines Angehörigen hätte verhindern können, wenn sie ihn an besagtem Abend nur angerufen hätte. „Es kam dann aber heraus, dass die Tat schon lange geplant war und sie überhaupt nichts hätte machen können – das zu wissen, sich das klar zu machen, das kann einem eine enorme Last von den Schultern nehmen“, sagt Christine Toth.

In der Radevormwalder Selbsthilfegruppe, die es nun seit etwa einem Vierteljahr gebe, seien aktuell vier Menschen, die regelmäßig zu den Treffen kämen. „Dabei sind Menschen, bei denen der Suizid des Angehörigen oder Freundes bereits viele Jahrzehnte zurückliege, aber auch solche, bei denen noch alles ganz frisch ist“, sagt Christine Toth. Es könnten bis zu 15 Teilnehmer zu den Treffen kommen.

Dabei lege sie großen Wert auf die Offenheit der Selbsthilfegruppe. „Die Teilnahme ist natürlich kostenlos und unverbindlich, man muss auch nicht bei AGUS Mitglied werden. Manchmal genügt ein einziges Treffen, um Klarheit zu bekommen, andere Teilnehmer müssen über einen längeren Zeitraum kommen“, sagt Christine Toth. Auch wenn es um einen sogenannten erweiterten Suizid geht – dabei hat ein Angehöriger beispielsweise nicht nur sich selbst sondern auch weitere Familienmitglieder getötet –, kann man zur Selbsthilfegruppe kommen. „Es geht letztlich darum, Antworten für sich selbst zu finden, einen differenzierten Blick auf die Faktoren zu werfen, die zum Suizid geführt haben, um so eine neue persönliche Zukunftsperspektive entwickeln zu können“, sagt Christine Toth.

Wichtig sei, dass in aller Regel immer mehrere belastende Faktoren zu einem Suizid führten. Neben psychischen Erkrankungen könnten traumatische Erlebnisse, eine gewalttätige Umgebung, körperliche Erkrankungen oder Mobbing zu einem Suizid führen.

Die Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention geht davon aus, dass es pro Jahr rund 100.000 Suizidversuche gibt. „Das Statistische Bundesamt hat errechnet, dass sich 1980 rund 50 Personen pro Tag das Leben nahmen, 2021 waren es nur noch rund 25 Menschen pro Tag“, sagt Christine Toth. Der Rückgang hänge auch mit einer guten und professionellen Suizidprävention zusammen.

Unterstützung Wessen Gedanken rund um Suizid kreisen, kann sich rund um die Uhr an die Telefonseelsorge wenden, ☏ 0800 1110111 oder 0800 1110222. Auch das Kinder- und Jugendtelefon hilft weiter, Montag bis Samstag von 14 bis 20 Uhr, ☏ 116111, das Elterntelefon ist von Montag bis Freitag von 9 bis 17 Uhr und Dienstag und Donnerstag von 9 bis 19 Uhr unter ☏ 0800 1110550 zu erreichen.

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