Radevormwald Gerichts-Gutachter räumt auf mit Märchen vom Nachtrunk

Radevormwald · Ist es möglich, in nur einer Stunde eine 0,7-Liter-Flasche Kräuterlikör und dazu mehr als einen Liter Bier zu trinken, ohne mit dann fast drei Promille im Blut sturzbetrunken umzufallen? Um diese Frage drehte sich eine Verhandlung vor dem Amtsgericht in Wipperfürth. Angeklagt war ein 64 Jahre alter Radevormwalder wegen einer Trunkenheitsfahrt und Unfallflucht. Die Fahrt unter Alkohol hatte der Mann schon in einer früheren Verhandlung vehement bestritten: Er habe nicht vor der Fahrt getrunken, sondern erst danach. Nun sollte zum zweiten Prozesstermin ein Rechtsmediziner sagen, ob das stimmen kann.

Zu dem Bagatellunfall war es am 8. März kurz nach 14 Uhr auf dem Aldi-Parkplatz in Vogelsmühle gekommen. Beim Einparken war der 64-Jährige auf einen Kleinwagen in der Parklücke vor ihm gefahren. Er stieg aus und erklärte der verblüfften Fahrerin, die gerade ihre Einkäufe in den Kofferraum packen wollte, er müsse erst einmal beim Metzger sein Mittagessen einkaufen. Das tat er auch. Die Frau wartete auf dem Parkplatz, bis der 64-Jährige zurückkehrte. Erneut sprach sie ihn auf den Unfall an, doch der Mann stieg wortlos in sein Auto und fuhr los. Die Frau rief die Polizei.

Gut eine Stunde später standen die Polizeibeamten bei dem 64-Jährigen an der Tür. Er musste "pusten". Volltrunken habe der Mann aber nicht auf ihn gewirkt, "der war noch ganz Herr seiner Sinne", sagte einer der nun als Zeugen geladenen Polizisten aus. Erstaunlich, denn die beiden Blutproben, die dem Rader danach, inzwischen zwei Stunden nach dem Unfall, entnommen wurden, ergaben eine Blutalkoholkonzentration von 2,7 Promille.

Beim zweiten Prozesstermin blieb der Angeklagte dabei: Den Kräuterschnaps und zwei bis drei Flaschen Bier habe er erst zum Essen nach der Einkaufsfahrt getrunken. Er habe sich zu diesem Zeitpunkt schlecht gefühlt und unter einem "Zuckerschock" gestanden. Vorher sei er jedenfalls nüchtern gewesen. Der Gutachter, ein Toxikologe aus der Rechtsmedizin, stellte indes klar: So kann's nicht gewesen sein. Zwar sei der Konsum von dermaßen viel Alkohol in so kurzer Zeit rechnerisch nicht zu widerlegen. Selbst bei alkoholgewohnten Menschen müsse es aber zwingend zu einer "Sturztrunk-Symptomatik" mit komatösem Zustand oder zumindest schweren Ausfallerscheinungen kommen. Davon hatten die Polizeibeamten nichts bemerkt. Fazit des Gutachters: "Dass die hohe Alkoholkonzentration ausschließlich auf den Nachtrunk zurückzuführen ist, ist nicht plausibel." Schon für den Zeitraum vorher sei von einer "relevanten Alkoholisierung" auszugehen. Unmöglich sei es aber zu sagen, wie viel Promille der Mann schon bei der Autofahrt und dem Unfall im Blut hatte und wie viel später hinzugekommen sei. Nach der eindringlichen Mahnung des Richters, nun endlich mit der Wahrheit herauszurücken, gestand der 64-Jährige schließlich ein: Am Vorabend habe er viel Wein, vor seiner Fahrt zum Discounter dann zwei oder drei Flaschen Bier getrunken. Die Flasche Kräuterlikör habe er aber erst später geleert.

Das späte Geständnis wertete der Richter strafmildernd. Er verurteilte ihn zu einer Geldstrafe in Höhe von 2000 Euro (40 Tagessätze à 50 Euro) und zu einer Führerschein-Sperrfrist von drei Monaten. Schon an dem Tag im März hatte der Mann seine Fahrerlaubnis abgeben müssen. Ohne verkehrspsychologische Therapie und die MTU wird er sie auch nach Ablauf der Sperrfrist nicht wiederbekommen.

(bn)
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