Leben an der Stadtgrenze Unterwegs in Hinüber: „Brauchen Sie Hilfe ?“
Radevormwald · Im Nordosten der Stadt Radevormwald fallen Auswärtige sofort auf – und treffen dort auf interessierte Hilfsbereitschaft. Unterwegs in den Hofschaften Born, Hinüber und Wellershausen.
Kurz hinter Oberschmittensiepen ist der Frühling vorbei. Es hagelt, und die Temperaturanzeige im Auto nähert sich bedenklich der Ein-Grad-Marke. Eine Leuchtanzeige warnt vor Straßenglätte, und dann, zwischen Oberschmittensiepen und Borbeck, fängt es tatsächlich an zu schneien. Es sind diese schweren Schneeflocken, die federleicht aussehen, dann aber nass und so schwer gegen die Frontscheibe platschen, dass klar ist, dass ihre Optik trügerisch ist und sie sich nicht sanft auf die Haare legen werden, wie es Schneeflocken in romantischen Filmen zu tun pflegen, sondern die Jacke durchnässen, sobald sie den Menschen erreichen. Es ist als Schnee getarnter bergischer Regen, der hier Ende März vom Himmel fällt und die nebelige Ferne nicht grau, sondern gelblich erscheinen und mit den noch bräunlichen Blättern der Bäume verschwimmen lässt.
Auf der kurvigen Straße in Richtung Hinüber steht ein verlassenes Paar Wanderschuhe, Männergröße, linker Hand auf einem Baumstumpf. Die Schuhe wirken wie ein Mahnmal eines ermüdeten, blasengeplagten Spaziergängers, der sich nicht anders zu helfen wusste, als das quälende Schuhwerk auszuziehen und zurückzulassen. Dabei sehen sie bereits sehr eingelaufen aus, diese Schuhe mit den blauen Schnürriemen. So, als hätten sie sich bereits über Jahre den Füßen ihres Besitzers angepasst. Jetzt stehen sie da also, allein gelassen, und irgendwie passt dieses künstlerische Ensemble zur Landschaft, die zwar nah an Westfalen liegt, aber doch zum Bergischen Radevormwald gehört. Was mit dem einstigen Träger der Schuhe geschah, ist nicht herauszufinden, auch nicht, wie er sich ohne Schuhwerk von dieser Stelle wegbewegte, als die Treter mutmaßlich drückten, ziepten oder unbequem wurden.
An mangelnder Hilfsbereitschaft der Anwohner dürfte der Schuhverlust nicht gelegen haben. Denn kaum angehalten, um das Stillleben zu fotografieren, stoppt ein schwarzer Wagen neben dem Auto der Autorin. Die Außenspiegel berühren sich fast, so schmal ist die Straße. Durch zwei schneebetropfte Seitenscheiben gucken sich zwei Frauen an, drücken dann die Fensterheber und lassen den Schnee leicht surrend mit ihren Fensterscheiben in den Autotüren verschwinden. „Brauchen Sie Hilfe?“, fragt die Anwohnerin. Sie hält das mit Warnblinkanlage am Rand geparkte Auto der Besucherin – deren auswärtiges Kennzeichen sie als Fremde ausweist – offenbar für einen Notfall. Dabei wirkt sie ehrlich besorgt und lächelt nicht nur freundlich, sondern wirkt dabei auch sehr kompetent. Läge hier tatsächlich eine Panne vor, riefe diese Dame statt eines Abschleppdienst sicherlich den Nachbarn mit dem Traktor zur Hilfe. Dass jemand an dieser Stelle vormittags mit Warnblinkanlage am Wegesrand steht, um ein altes Paar Schuhe zu fotografieren, ist ungewöhnlich in Rader Randlage.
Die Dame ist nicht die einzige, der der Wagen mit auswärtigem Kennzeichen auffällt. Es vergehen keine fünf Minuten, da stoppt Hermann Schneider in einem Transporter neben der Besucherin, die inzwischen in Hinüber an einem Wartehäuschen den Fahrplan des Bürgerbusses studiert. Auch er lässt die Seitenscheibe hinunter und fragt höflich, ob er denn wohl helfen könne. Den Wagen der Unbekannten überholte er bereits kurz hinter dem Wanderschuh-Stillleben, und als die Auswärtige nach rechts in Richtung Wellershausen abbog, steuerte Schneider sein Gefährt zwar geradeaus weiter in Richtung Born, verlangsamte aber deutlich das Tempo, um über das hügelige Grün hinweg zu beobachten, welches Ziel der Kleinwagen wohl haben könnte.
Man fällt auf als Fremder in den Hofschaften Wellershausen, Born und Hinüber, die nur aus einer Handvoll Häuser bestehen. Hermann Schneider, Brandschutzbeauftragter seines Brandschutzservice-Unternehmens, trägt Filzhut gegen den Regen und ist, das sagt er mit einem gewissen Stolz, seit mehr als 20 Jahren Anwohner von Born. Es lebe sich „wirklich ausgezeichnet“ in dieser entlegenen Ecke Radevormwalds, erklärt er und streckt dabei verstärkend beide Daumen nach oben. Dann muss er los, Termine, zuppelt an einer neongelben Warnweste, die er über den Beifahrersitz gehängt hat, und fährt weiter, hält aber wenige Meter später wieder an, weil ihm ein Traktor entgegenkommt und die Straße keinen Platz bietet für Transporter und Landwirtschaftsfahrzeug nebeneinander. Man grüßt sich, man kennt sich. Allesamt Nachbarn entlang dieser abgelegenen-Ortschaften, die nichts anderes sind als Straßen, die Höfe oder Häuser verbinden. Wer im Ortsteil Hinüber beheimatet ist, dessen Straße heißt auch so. Nur die Hausnummern – von denen es eine sehr überschaubare Zahl gibt – unterscheiden sich.
Gefühlt ist die Dichte an Ortschaften-Schildern nirgendwo in Deutschland größer als hier an diesem Grenzbereich des Bergischen Landes. Die Übergänge zwischen Oberschmittensiepen Borbeck, Born, Hinüber und Wellershausen sind fließend. Kaum hat man Borbeck passiert, wo robust wirkende Ponys, die aus einem zum Trog umfunktionierten Traktorreifen futtern und dabei stoisch dem Schneeregen trotzen, ist auch schon Hinüber erreicht, das Weitsicht und ein sehr graues Schulbushaltestellenhäuschen bietet und dann in Born und Wellershausen übergeht. Im Metallabfalleimer, der deutlich neuer aussieht als die Bushaltestelle, an der er befestigt ist, liegt eine Zeitung. Sie ist eine Woche alt.
Nach Angaben von Wolfgang Scholl von der Stadt Radevormwald leben 52 Menschen in den drei Ortschaften. Wenn selbst die Müllabfuhr selten den Weg in diese Ecke findet, ist es kein Wunder, dass jeder fremde Wagen auffällt.