Neuss Zeitzeugin erzählt vom Mauerbau

Neuss · Vor 50 Jahren war die Neusserin Gabriele Holtappels Augenzeuge, als Ostberlin abgeriegelt wurde und der Mauerbau begann. Über diese bewegten und bewegenden Tage sprach sie mit Celine Couson (19) und Lea Eitel (19), die nie ein geteiltes Deutschland erlebt haben.

 Augenzeugin Holtappels: "Die Mauer wurde immer perfekter."

Augenzeugin Holtappels: "Die Mauer wurde immer perfekter."

Foto: AP Archiv

Celine Couson kann sich nicht vorstellen, innerhalb einer Stadt nicht von einem Stadtteil in den benachbarten zu kommen. Gabriele Holtappels hat es erlebt. Am Tag, als in Berlin die Mauer gebaut wurde, heute vor 50 Jahren. Die 19-jährige Abiturientin und die 72 Jahre alten Grundschullehrerin im Ruhestand trennt nicht nur ein halbes Menschenalter, sondern auch die Erfahrung, in einem geteilten Deutschland gelebt zu haben.

 Gabriele Holtappels zeigt Celine Couson und Lea Eitel (r.) an einem alten Stadtplan den Verlauf der Mauer.

Gabriele Holtappels zeigt Celine Couson und Lea Eitel (r.) an einem alten Stadtplan den Verlauf der Mauer.

Foto: woi

"Die Geschichte der DDR war in der letzten Klasse nur drei Wochen Thema", sagte Couson, als sie und Lea Eitel – beide NGZ-Praktikantinnen – sich mit Gabriele Holtappels zusammensetzten. 1992 geboren, gehört sie zu der Generation, über die Wolfgang Schäuble, zum Zeitpunkt des Mauerfalls Bundesinnenminister, sagt: "Bei den Jungen spielt die Mauer keine Rolle mehr." Aber denen gibt Holtappels gerne Nachhilfe, denn die Augenzeugin will, "dass die menschlichen Tragödien, die durch den Mauerbau verursacht wurden, im Bewusstsein bleiben." Und dass junge Menschen Verständnis für die haben, die anders geformt wurden, weil sie hinter der Mauer leben mussten.

Gabriele Holtappels, 1938 in Berlin-Zehlendorf geboren, hatte der "Frontstadt" 1960 den Rücken gekehrt und war nach Düsseldorf gezogen. Sie hatte das Gefühl, "mal raus zu müssen" aus der geteilten Stadt, deren Westsektoren ein Stachel im Fleisch der sowjetisch besetzten Zone waren. Sie erlebte 1948 die Zeit von Blockade und Luftbrücke ("Die Amerikaner haben uns vor dem Verhungern gerettet."), die Diskussion um die Stalin Note von 1952, den Aufstand des 17. Juni 1953 und das Berlin-Ultimatum der Sowjets 1958. "Ich saß damals im Konzertsaal und dachte: Das gehört uns bald nicht mehr", erinnert sie sich, an einen Moment, der ein Grundgefühl jener Jahre ausdrückt: Eine zunehmende Angst "einkassiert zu werden".

Trotzdem war die junge Lehrerin mit ihrem heutigen Mann Hans-Josef in jeden Ferien bei Angehörigen in Berlin. So auch in den Tagen des Mauerbaus. Am Abend vor Schließung der Grenze war eine Tante zu Besuch, erinnert sie sich. Eine Ordensschwester im Ostteil. Die blieb länger als sonst und verabschiedete sich mit den Worten: "Ich glaube, wir haben uns zum letzten Mal gesehen." Morgens um sieben rief dann ein Freund die Holtappels an: "Die machen die Grenze zu."

Holtappels liefen sofort zur Mauer. Wie an jedem Tag ihres Berlin-aufenthaltes, wie nachher noch viele Male – auch mit den Schulklassen, die der Geschichtslehrer Hans-Josef Holtappels so oft wie möglich in die geteilte Stadt mitnahm. Die Mauer sollte Teil des Unterrichtes sein. "Wir wollten das Entsetzen begreifen, das nicht zu begreifen war", erklärt sie heute.

Mit der Kamera in der Hand sahen Holtappels zu, wie die Grenze immer undurchlässiger gemacht wurde. Wie erst Fenster vermauert und Kirchen in Grenznähe abgerissen wurden und später Hunde Wachtürme und Scheinwerfer dazukamen. "Es wurde immer perfekter, aber man konnte sich nicht damit abfinden", sagt sie und zeigt auf einem alten Plan den Grenzverlauf, der aus der Stadt eine Insel machte. "Man konnte nicht einfach mit dem Fahrrad aus der Stadt radeln. Und man hatte Angst, auf dem Wannsee an das falsche Ufer zu geraten."

Bewegende Momente erlebte das Paar an diesem Stück innerdeutscher Grenze. Als beide zusehen mussten, wie der 18-jährige Peter Fechter am 17. August 1962, auf der Flucht von drei Kugeln getroffen, auf dem Todesstreifen der Grenzbefestigung liegen blieb und verblutete. Oder als Pfingsten 1962 ein Mann aus dem Westen seiner Frau in Osterberlin zuwinkte, "Frohe Pfingsten" wünschte. Holtappels: "Die Mauer hatte Familien getrennt, alles radikal zerschnitten."

Aber auch die schönsten Erinnerungen verbindet sie mit der Mauer – als diese fiel. "Am 9. November 1989 riefen Freunde aus Nordnorwegen an und sagten: Wir sitzen am Fernseher und heulen nur noch." Kein Jahr später, am 3. Oktober 1990, dem Tag der Wiedervereinigung, schickten die gleichen Freunde Blumen und eine Karte mit dem Text der Berliner Freiheitsglocke. Der Glocke, deren Ton Gabriele Holtappels noch heute überall heraushören kann – und der ihr immer die Tränen in die Augen treibt.

(NGZ)
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