Stunde Null des Deutschen Volkes Weg in die nationale Katastrophe

Stunde Null des Deutschen Volkes · Während die Programmmacher vieler Fernsehanstalten den Tag des Kriegsendes vor 60 Jahren schon abgehakt haben, drehten am Dienstag Stadtarchiv, VHS und Stadtbibliothek in einer zweigeteilten Gemeinschaftsveranstaltung noch einmal die Uhr zurück zur Stunde Null des Deutschen Volkes, den 8. Mai 1945.

Ein Datum, wie Dr. Annekatrin Schaller vom Stadtarchiv in einem detaillierten Vortrag betonte, das für die Neusser nicht den entscheidenden Tag am Kriegsende markierte. Denn als vor den Alliierten in Ost und West die bedingungslose Kapitulation unterzeichnet wurde, hatte sich der Alltag im linksrheinischen Neuss, das Anfang März besetzt worden war, schon etwas normalisiert.

Die Stadtverwaltung arbeitete, die Menschen begannen mit der Beseitigung der Kriegstrümmer, und seit dem 29. April waren nicht mehr die amerikanischen Truppen für Sicherheit und Ordnung verantwortlich, sondern die Briten in ihrer neu eingerichteten Besatzungszone. Doch wie bot sich die Stadt dar?

Bevor in einem zweiten Teil des Abends Zeitzeugen Antwort auf diese Frage gaben und ihre persönlichen Erlebnisse vom Kriegsende in Neuss schilderten, schuf Schaller mit ihrem faktenreichen Referat den Rahmen, in den diese Schilderungen eingearbeitet wurden. Und sie bilanzierte auf der Basis der im Stadtarchiv verwahrten Dokumente die Zerstörung der Stadt, die, wie noch im ersten Rechenschaftsbericht der Verwaltung aus dem Jahr 1953 stolz festgehalten wird, zum Kriegsende als "beste luftgesicherte Stadt" gegolten habe.

Den Tag der Befreiung erlebten 29 000 Menschen, die in Neuss ausgeharrt hatten. Den Befehl des Gauleiters zur Evakuierung hatte die Stadtverwaltung unter dem NS-Oberbürgermeister Dr. Wilhelm Tödtmann nicht mehr ausgeführt. NS-Getreue, die noch am 1. März die Bunker in der Stadt abklapperten und die von Daueralarm und Bunkernächten oft zermürbten Neusser zur Flucht auf das rechte Rheinufer und zur Fortsetzung des Kampfes bewegen wollten, hatten wenig Erfolg.

Alle warteten auf das Ende der Kämpfe, das sich selbst für Neuss nicht an einem Tag festmachen lässt. "Es gibt nicht den einen Tag, an dem ganz Neuss besetzt wurde", fasst Schaller zusammen. "Erlebten die Einwohner einiger Außenbezirke im Westen den Einmarsch bereits am 1. März, wartete man in Grimlinghausen noch bis zum 5. März, in Uedesheim bis zum 6. März auf die Amerikaner." Der Wirkung von Waffen waren die Neusser damit aber noch nicht entzogen, denn bis zur Einnahme Düsseldorfs Mitte April 1945 schoss deutsche Artillerie von dort über den Rhein auch in die Stadt hinein. 22 Menschen verloren in diesem Feuer ihr Leben.

Der Blutzoll, den die Neusser Zivilbevölkerung in den sechs Kriegsjahren zu entrichten hatte, war ungleich höher. 837 Menschen - 576 Deutsche und 261 Ausländer - kamen bei den 136 gezählten Luftangriffen auf Neuss ums Leben.

Der letzte dieser Bombenangriffe forderte am 23. Januar, dem Tag an dem die US-Truppen die Offensive "Grenade" zur Gewinnung des westlichen Rheinufers zwischen Krefeld und Neuss starteten, noch 52 Menschenleben. Weitere 16 Todesfälle sind mittelbar durch den Krieg verursacht und wurden von Schaller ebenfalls erwähnt. Diese Menschen starben im ab 1942 erbauten Krankenhausbunker - das Lukaskrankenhaus war zerstört - an Fleckfieber.

Zum Tod kam die Verwüstung. 30 Prozent des Wohnraums und zahlreiche öffentliche Gebäude wie das Rathaus aus dem 17. Jahrhundert waren am Kriegsende zerstört. 327 beschädigte Häuser wurden aus Sicherheitsgründen nach Kriegsende abgerissen. Insgesamt 730 000 Kubikmeter Schutt. Die Abtragung dieses Berges zog sich bis ins Jahr 1949 hin.

Da hatten auch die Neusser den Wiederaufbau schon tatkräftig angepackt, dessen erste Phase 1954 durch die Fertigstellung des neuen Rathauses markiert wurde. Damit schloss Schaller vor gut siebzig Zuhörern ihren Vortrag, der am Beispiel Neuss 20 Jahre deutscher Geschichte nachgezeichnet hatte. Denn die nationale Katastrophe begann nicht erst 1945, wie die Historikerin aufzeigte, sondern schon mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten im Januar 1933.

(NGZ)
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