Neuss Was die EU zusammenhält
Neuss · Wie geht's weiter mit Wirtschaft und Politik in Europa? Diese Frage stand beim "Klartext"-Abend von IHK, Sparkasse und NGZ im Mittelpunkt. Für Antworten geladen: der scheidende Präsident des EU-Parlaments, Hans-Gert Pöttering.
Er ist das europapolitische Aushängeschild der CDU, war bis Juni Präsident des Europäischen Parlaments und ist der einzige Abgeordnete, der seit der ersten Direktwahl 1979 ohne Unterbrechung in Straßburg und Brüssel Politik macht: Dr. Hans-Gert Pöttering.
Hand aufs Herz: Hätten Sie den Namen auf Anhieb nennen können? Politikinteressierte werden wissend nicken, viele andere wohl eher mit den Schultern zucken. Europapolitik hat es immer noch schwer in der öffentlichen Wahrnehmung. Dass die Wahlbeteiligung im Juni mit europaweit nur 43 Prozent so niedrig war wie nie zuvor, ist der traurige Beweis.
In der Ursachenforschung herrscht Einigkeit: Europapolitik muss transparenter und vor allem über Personen identifizierbarer werden. Dass das funktioniert, zeigten gestern Abend die Industrie- und Handelskammer Mittlerer Niederrhein, die Sparkasse Neuss und die Neuß-Grevenbroicher Zeitung: In der Veranstaltungsreihe "Klartext" holten sie mit Hans-Gert Pöttering einen Gast nach Neuss, der wie kaum ein anderer berichten kann, was die EU in ihrem Inneren zusammenhält — oder mitunter auch zu sprengen droht.
Im Gespräch mit Sven Gösmann, Chefredakteur der Rheinischen Post, bezog der 64 Jahre alte Christdemokrat und inzwischen dienstälteste Abgeordnete der Europäischen Volkspartei (EVP) im EU-Parlament, Stellung — zum Beispiel zur Frage eines EU-Beitritts der Türkei: "Ich bin der festen Überzeugung, dass die Europäische Union politisch, kulturell und finanziell überfordert wäre, die Türkei aufzunehmen." Dennoch sollten die Verhandlungen mit der Türkei fortgesetzt werden: "Sonst bricht dort der Reformprozess ab."
Auch mit Blick auf die Beziehungen der EU zu Russland ist Pöttering deutlich: "Wir dürfen nicht erpressbar werden. Deshalb brauchen wir Energie nicht nur aus einer Quelle." Für den Niedersachsen ist die Dominanz Russlands bei der Gasversorgung ein Paradebeispiel für den Nutzen der EU. Ob Abwehr energiepolitischer Erpressungsversuche, Regulierung der internationalen Finanzmärkte als Reaktion auf die Weltwirtschaftskrise oder Schutz des Klimas — nur in der Gemeinschaft der 27 Staaten seien solche Ziele zu erreichen. Und doch, so Gösmann, müsse die EU Kritik einstecken: Wenn Feldhamster und andere possierliche Tierchen mit EU-Artenschutzabkommen im Rücken auf den Plan treten, würden Investitionen und Wachstum gerade in der mittelständischen Wirtschaft blockiert. Zuvor hatte bereits IHK-Präsident Heinz Schmidt mehr Augenmaß angesichts der Regulierungswut der EU angemahnt.
Pöttering hält dem die Vorteile des europäischen Binnenmarktes entgegen. Er gibt allerdings zu, dass manche Initiative aus Brüssel durchaus Probleme mache. Wie schwerwiegend diese seien, hänge aber stark von den nationalen Regierungen ab: "Es gibt bei EU-Regeln immer Spielraum. Sie müssen einfach nur richtig wählen."
Bei allem Ärger über Bürokratie und einzelne Vorschriften sei die EU für ihre Mitglieder letztlich ohne Alternative: "Sie ist der einzige Weg, unsere Gesellschaftsordnung in eine gute Zukunft zu führen."