Stadtgeschichten (71) Vogelschuss - Tradition seit Jahrhunderten

Neuss · Die Schießstand-Richtlinie des Bundesinnenministers löste eine Diskussion über das Königsschießen der Schützen aus. Dabei wurde deutlich: Das Vogelschießen hat Tradition, nicht aber die Form. Waffen und Munition wurden mehrfach gewechselt.

 Vogelschuss Neuss um 1950 auf der auch heute noch als Festwiese genutzten Galopprennbahn – noch mit Armbrust statt Gewehr. Karl Arthur Boetticher war 1951 der letzte Neusser Schützenkönig, der mit der Armbrust ermittelt wurde.

Vogelschuss Neuss um 1950 auf der auch heute noch als Festwiese genutzten Galopprennbahn – noch mit Armbrust statt Gewehr. Karl Arthur Boetticher war 1951 der letzte Neusser Schützenkönig, der mit der Armbrust ermittelt wurde.

Foto: Schützenarchiv/Andreas Woitschützke

Was für ein Thema! Präziser formuliert: Was für ein Thema für die Neusser (Schützen)! Da erlässt ein Oberfranke, noch dazu im preußischen Berlin, eine neue Schießstand-Richtlinie, die das Königsvogelschießen der Neusser Schützen "revolutioniert". Der Königsvogel, der in Neuss mehr einem blassen Toastbrot denn einem stolzen Adler gleicht, muss auf acht Zentimeter Umfang abspecken, die vor 20 Jahren vom damaligen Schützenkönig Christian Hellendahl gestifteten Flinten müssen eingeölt ins Depot wandern. Nichts schien den Neusser Schützen mehr so, wie es früher einmal war. Wirklich?

 Der Stadtplan von Hogenberg (1590) zeigt die älteste Schießstätte der Neusser Schützen, die parallel zur Stadtmauer zwischen Zolltor und Windmühlenturm lag.

Der Stadtplan von Hogenberg (1590) zeigt die älteste Schießstätte der Neusser Schützen, die parallel zur Stadtmauer zwischen Zolltor und Windmühlenturm lag.

Foto: Stadtarchiv Neuss

Der Schießwettbewerb, an dessen Ende ein neuer Schützenkönig proklamiert wird, war in Neuss stets einem Wandel unterzogen. Die bis in die Gegenwart praktizierte Art und Weise ist erst rund zwei Jahrzehnte alt. Christian Hellendahl, der Schützenkönig 1993/94, übergab dem Bürger-Schützen-Verein zwei neue Flinten für das Vogelschießen. Da die "schlagkräftiger" als ihre Vorgänger waren, so erklärt es der für das Königsschießen im Schützen-Komitee verantwortliche Oberschützenmeister Martin Flecken, musste das Ziel "verstärkt" werden. Aus dem runden Korpus wurde ein eckiger mit Konturen — in der Mitte ist er breiter als an den Enden. "Sonst wäre der Holzvogel von den neuen Flinten zu schnell erlegt worden", erklärt Flecken. Dabei passte das Schießen auf den Königsvogel auch zuvor in kein zeitliches Schema. Von 1 bis 84 war alles möglich. Im Klartext: Ernst Heitzmann entschied den Wettbewerb 1953 mit dem ersten Schuss für sich. Zwei Jahre später triumphierte Josef Kramer erst mit dem 84. Schuss.

 Der Scheibenstand im alten Stadtgraben, der im 19. Jahrhundert zugeschüttet wurde und heute das Fundament der Promenade ist.

Der Scheibenstand im alten Stadtgraben, der im 19. Jahrhundert zugeschüttet wurde und heute das Fundament der Promenade ist.

Foto: Stadtarchiv Neuss

Als besonders spannend empfinden die Zuschauer ein Königsschießen, zu dem mehrere Bewerber am Dienstagabend antreten und sich einen packenden Wettstreit über 20 bis 40 Schuss liefern. Für diesen Idealfall müssen Waffe und Munition im richtigen Verhältnis zur Beschaffenheit des Ziels stehen. Das meint Martin Flecken wenn er sagt, die neue Schießstand-Richtlinie hätte die Neusser Organisatoren zum experimentieren gezwungen. Wird das anvisierte Ziel, in unserem Fall der Holzvogel, dünner, muss mit leichterem Kaliber geschossen werden — werden Waffe und Munition nicht "abgerüstet", kann der Vogel schon mit dem ersten Schuss fallen. Langeweile statt Spannung.

Genau diese Gefahr sahen zuletzt die Schützen in Neuss, aber auch in Grimlinghausen und Dormagen. In seiner neuen Schießstand-Richtlinie verfügte Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich, dass der Rumpf der Schützenvögel nur noch 8 statt bisher 15 Zentimeter dick sein darf. Die Schützen protestierten, vor allem die Schützen aus Westfalen und ganz besonders dem Sauerland. Inzwischen hat Minister Friedrich seine Richtlinie wieder geändert. Das Vogelschießen kann in gewohnter Weise stattfinden.

Doch was ist die gewohnte Art und Weise? Wer in die Chronik der Schützen schaut, der erkennt: Der Vogelschuss hat Tradition, weniger die Form. Waffe und Munition änderten sich. So wurde bei den ersten Schützenfesten nach dem Zweiten Weltkrieg — noch bis einschließlich dem Jahr 1951 — der Neusser Schützenkönig mit der Armbrust ermittelt. Letzter Armbrust-König war Karl Arthur Boetticher.

Die Geschichte des Vogelschusses reicht bis ins Mittelalter zurück. Daran erinnerte der in Langwaden lebende Brauchtumskenner Manfred Becker-Huberti in einem Beitrag für unsere Zeitung: "Dieser Brauch stand immer unter dem Schutz der Obrigkeit, die nachweislich oft selbst Preise aussetzte." Der heutige "Vogel" war ursprünglich ein Papagei. Auch dafür hat Becker-Huberti eine Erklärung: "Dieser bunte Vogel war den Menschen aus der Zeit der Kreuzzüge bekannt, ein fremder, königlicher Vogel und nicht verbunden mit einer Symbolik, die seiner Verwendung als Ziel im Wege gestanden hätte. Eine Taube zum Beispiel, Symbol des Heiligen Geistes."

Der Vogelschuss fand im Grünen statt. Das "Neusser Volksfest" begann als Bartholomäuskirmes auf den Plätzen rund um die Quirinuskirche, Als die Lärmbelästigung zu stark wurde, zog sie auf eine Wiese vor dem Hessentor um. Die war zuvor aufgeschüttet worden — der heutige Wendersplatz. Auch Kirmes und "Vogelwiese" veränderten sich.

(NGZ/ac)
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