Neuss Vereine - die organisierte Gesellschaft

Neuss · Die Vereine, Gesellschaften und Verbände bilden eine wesentliche Grundlage der bürgerlichen Gesellschaft im 19. Jahrhundert. Zu diesem Ergebnis kommt die Vereinigung der Heimatfreunde bei ihrem 20. "Historischen Abend". In jenen Jahrzehnten bildete sich im Kern heraus, was in vielerlei Gestalt bis in die Gegenwart Bestand hat.

Vereine in Neuss - eine lange Tradition
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Vereine in Neuss - eine lange Tradition

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Einer muss der Jüngste sein. Im Fall der Neusser Vereine ist es das "Interkulturelle Frauen-Netzwerk", am 19. September von Beate Erkelenz ins Vereinsregister des Amtsgerichtes Neuss eingetragen. Als Nummer 1522 im Amtsgerichtsbezirk. Die große Zahl ist Ausdruck eines vitalen Vereinslebens, das im 19. Jahrhundert seine Ursprünge hat. Seit damals, so fasst Helmut Gilliam beim Historischen Abend der Heimatfreunde zusammen, "leben wir in einer Gesellschaft der Vereine, Gesellschaften und Verbände, kurz: in einer organisierten Gesellschaft".

Aber Verein ist nicht Verein. "Eingetragen" ins behördliche Register wird nur, wer als gemeinnützig anerkannt ist. Den Antrag dazu muss ein Notar stellen, erklärt Erkelenz. Doch viele Vereinigungen wollen diesen Weg gar nicht gehen, streben den Zusatz "e.V." nicht an. Als "Jecke us alle Ecke" oder "Hoaster Wiever" sind sie zum Beispiel im Karneval organisiert unterwegs. Aber auch ihnen ist ihr Club, ihre Clique, ihre Vereinigung, was Vereine immer auch ausmacht: Sie sind neben Familie und Beruf — und manchmal sogar vor diesen — eine zweite oder dritte Heimat.

Eine andere und ganz neue Erscheinungsform im Kosmos der Vereine sind die oft spontan gegründeten Bürgerinitiativen, deren Mitglieder sich gegen staatliche Maßnahmen — wie eine Schulschließung — wehren, oder etwas erreichen wollen. Lärmschutz für Elvekum, zum Beispiel, eine Verkehrsberuhigung an der Horremer Straße oder den Erhalt des Biotops Obererft. Aber was, so fragt Gilliam, tun sie anderes als eine Gesellschaft "Constantia" oder der "Demokratische Club", die sich Mitte des 19. Jahrhunderts gründeten, um sich gegen etablierte Mächte zu wehren und ganz bestimmte Ziele zu erreichen? Wenn die Verbände in der Stadt Kinder des 19. Jahrhunderts sind, so folgert er, sind die Bürgerinitiativen seine Enkelkinder — "manchmal unbequem und eigensinnig, aber aktiv und lebendig". Allerdings, so stellt Gilliam fest, sei Neuss keine Hochburg für derart organisierten Bürgerwillen.

Als Teil eines lebendigen Gemeinwesens spiegelt sich auch der Zeitgeist in den Vereinen wider. Das merken auch im katholisch geprägten Neuss besonders die konfessionell gebundenen Vereine. Ihre Bedeutung und ihr politischer Einfluss, den sie gerade im 19. Jahrhundert genossen, schwanden schon mit Beginn des 20. Jahrhunderts, legte Max Tauch vor den Heimatfreunden dar. Derzeit verlieren sie auch als Größe im gesellschaftlichen Leben einen Bedeutungsverlust. Überalterung und Mitgliederschwund zehrt sie langsam aus. Als einen Grund dafür nimmt Tauch an, dass eine Mitgliedschaft in einem kirchlich gebundenen Verein eben auch ein konfessionelles Engagement verlangt. Dazu seien immer weniger Menschen bereit.

Am Anfang aller Vereine — der noch bestehenden wie der längst vergessenen — stand auch in Neuss die französische Revolution. Sie gebar eine bürgerlich liberale Gesellschaft. "Vom Mittelalter bis in den Absolutismus war die Gesellschaft fest gefügt in vorgegebenen Formationen: Stände, Zünfte, Gilden und Kammern", arbeitet Gilliam den Unterschied heraus. In diese wurde man meist hineingeboren. "Aus eigenem Entschluss freiwillig beizutreten oder einen Verein zu gründen, war unmöglich." Und genau das macht den Unterschied aus.

Die Vereinigungsfreiheit, das "Koalitionsrecht", war vor beinahe zwei Jahrhunderten eine der Parolen der liberalen Bürger gegen eine alles reglementierende Obrigkeit. Sie durchzusetzen war die Voraussetzung für die Gründung von freien Verbänden und Vereinen, die sich, so Gilliam, "für einen bestimmten Zweck mit freiwilliger Mitgliedschaft zusammenschließen — oder auflösen." Diese Vereinigungsfreiheit garantiert heute Artikel neun des Grundgesetzes.

Auch wenn Neuss keine Hochburg der bürgerlichen Revolution war, so markieren die Jahre um 1848 doch auch hier einen Aufbruch in, so Gilliam, "selbstverantwortliche Willensbildung und Organisation." Dafür steht der "Demokratische Club", dessen Mitgliedern im Polizeibericht, "wühlerische Reden" unterstellt wurden. Als Gegengewicht gründete sich der "Bürgerverein", der dem Geist der Zügellosigkeit entgegenwirken wollte. In diese Jahre fällt auch die Gründung eines ersten Turnvereins und — 1852 - des Neusser Gesellenvereins ("St.-Vinzenz-Verein") als erste berufsständische Organisation von Arbeitnehmerinteressen.

Der hatte auf kirchlich-katholischer Seite seine Entsprechung und einen Vorläufer in einer Marianischen Junggesellensodalität. In dieser scharte der Lehrer Johann Gregor Breuer schon 1844 junge Handwerker um sich, um deren Los zu verbessern. Zwei Jahre später gründete er in Elberfeld einen Junggesellenverein, dessen geistliche Betreuung ab 1847 Adolph Kolping übernahm, der "Gesellenvater". Für den Neuss-Historiker Joseph Lange, so legte Max Tauch dar, ist Breuer der eigentliche Vater des Gedankens, der noch heute das Kolpingwerk prägt.

"In der Mitte des 19. Jahrhunderts wuchs der Kern aller wesentlichen bis heute bestehenden Verbände heran", bilanziert Gilliam. Auf politisch-gesellschaftlicher Seite, bei den wirtschaftlichen Interessen und auch auf dem geselligen Gebiet. "Dort allerdings", so Gilliam, "liegt neben den Karnevalsgesellschaften mit den Schützenbewegungen ein für Neuss besonders typischer Schwerpunkt, der schon auf die ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts zurückgeht."

Endgültig an der Wende des 20. Jahrhunderts waren die wichtigsten Stützen des Vereinswesens ausgeprägt. Unternehmerverbände wie Gewerkschaften, Sport- und Brauchtumsverein, aber auch Parteien. "Sie haben andere Großorganisationen wie die Kirchen in ihrer Bedeutung zurückgedrängt, aber solche Organisationen wie die für das katholische Rheinland typische Bürgergesellschaft nicht verdrängen können", sagt Gilliam.

Aber die Geschichte der Vereine geht weiter. Arbeiter- und Fürsorgevereine, Fußball-, Frauen-, Imker-, Turn-, Schwimm-, Rad-, Ruder- und Wandervereine, Tennisclubs und sogar Hausmeisterverein: Ihre Reihe scheint unendlich. Und hat mit dem "Interkulturellen Frauen-Netzwerk" eine ganz neue Variante.

(NGZ)
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