Neuss Tänzer aus Frankreich hinterlassen gemischten Eindruck

Neuss · 100 Jahre ist es her, dass die Uraufführung von "Le Sacre du Printemps" in Paris für Aufruhr sorgte: sowohl die Musik von Igor Stravinsky als auch die Choreographie von Vaslav Nijinsky. Inzwischen lassen sich die neuen choreographischen Versionen zum "Frühlingsopfer" gar nicht mehr zählen. Bei den Internationalen Tanzwochen präsentierte nun das Ballet de Lorraine, eine Truppe, die moderne Ballettstile pflegt, eine dieser neuen Kreationen, die man schnell wieder vergisst.

Die kanadische Choreographin Ginette Laurin, Jahrgang 1955, lässt in einem feinen hängenden Dekor, das wohl Laub und Natur symbolisiert, zuerst ein einzelnes Paar auftreten. Mann, Frau. Sie tragen dünnen Sommerstrick mit überlangen Ärmeln oder Schleppen, wodurch sie ein wenig tier- oder nymphenhaft wirken. Im Laufe des Stückes verschwinden diese Häute, so dass gegen Ende alle 20 Tänzer bloß knappe, hautenge goldene Hosen oder Bodies tragen. Also haben sie sich irgendwie verwandelt, das ist ja auch der Sinn einer Opferung. Aber in was? Gruppen- und Einzelszenen wechseln so häufig und scheinbar grundlos, dass außer in der Musik keine Spannung aufkommt. Ins Leere laufen auch die Pas de deux, bei denen Mann und Frau mechanisch Balancen und Hebungen ausführen. Oder war diese Fruchtlosigkeit beabsichtigt?

Die andere Choreographie des Abends aber bot Tanz vom Feinsten. "White Feeling" des Portugiesen Paulo Ribeiro von 2003 ist wie eine Umkehrung des Üblichen. Nur Männer tanzen hier, neun. Sie bilden eine Gemeinschaft, doch nie marschmäßig synchron in den Bewegungen, stets bleiben es erwachsene Einzelne. Man macht mal etwas nach oder mit, schaut sich beim Kollegen etwas ab, probiert es, macht es anders, auf eigene Art. Einer setzt sich lange Zeit ab und tänzelt beglückt und in sich gekehrt um die helle Spielfläche herum, auf der die anderen Dehnübungen machen oder auf einem Bein stehen oder Choreographieschnipsel mit schwierigen Drehungen proben.

Nie scheinen sie sich nach dem Publikum zu richten, nur zu Beginn präsentieren sie ihm mit hochgeschobenen Shirts ihre Rücken, die sich ausbeulen und verziehen wie Grimassen. Das alles strahlt eine wunderbare Gelassenheit aus zu undramatischer Bandoneonmusik von Danças Ocultas; und wenn mal jemand schubst, versandet die kurze Unruhe schnell. Keine Kraftmeierei, kein Wettbewerb, kein ballettöses Brillieren, sondern eine utopisch freischwebende Einigkeit im Machen und Machenlassen. Warum tanzt jemand überhaupt? Das "Weiße Gefühl" kommt einer Antwort ziemlich nahe.

(NGZ/ac)
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