Neuss Spiel mit der Realität

Neuss · Mit der Kleinen Compagnie an der Alten Post hat Jale Maria Gönenc eine Bühnencollage erarbeitet, die aus Texten des Autors und Psychiaters Oliver Sacks besteht. Der Titel: "Der Mann, der seine Frau für einen Hut hielt".

 Die Kleine Compagnie hebt mit ihrer Textcollage "Der Mann, der seine Frau für einen Hut hielt" (Natur-)Gesetze aus den Angeln.

Die Kleine Compagnie hebt mit ihrer Textcollage "Der Mann, der seine Frau für einen Hut hielt" (Natur-)Gesetze aus den Angeln.

Foto: Alte Post

Zutiefst sonderbar ist die Geschichte jener Zwillinge, die der Psychiater Oliver Sacks in den 1960ern in einer psychiatrischen Klinik beobachtete. Obwohl die beiden außerstande waren, geringste Angelegenheiten des täglichen Lebens selbst zu regeln und nie auch nur die Grundrechenarten gelernt hatten, hatten sie großen Spaß beim Austausch von bis zu 20-stelligen Zahlen, die sich als Primzahlen herausstellten. Wie aber ist das möglich? Und wie lässt sich jenes Ereignis auf der Aphasie-Station erklären, wo Patienten, denen die Bedeutung der Worte verschlossen ist, bei einer Rede des Präsidenten in große Heiterkeit verfielen?

Auf der Grundlage von Sacks Entdeckungen haben Schauspielschüler der Alten Post unter Regie von Jale Maria Gönenc eine packende Collage aus Texten, Bildern und Szenen zusammengestellt, die nicht nur rundum sehenswert ist, sondern der es auch gelingt, verstörende Fragen zu stellen. Wenn schon die Quantenphysik nicht daran zweifelt, dass etwas zugleich Teilchen und Welle sein kann, kann dann auch ein Mensch zugleich einer und ein ganz anderer sein? Ist Moritz wirklich Moritz, wie er sagt, oder vielmehr Alexis, wie alle anderen glauben? Oder ist er beides? Ist es verrückt, einfach die Wand hinauflaufen zu wollen? Und was hat es auf sich mit — so der Titel eines Buchs von Oliver Sacks wie auch der Bühnencollage der "Kleinen Compagnie" — dem "Mann, der seine Frau für einen Hut hielt"?

In faszinierender Weise findet Gönenc immer wieder überraschende Bilder für das Außergewöhnliche, lässt ihre Schüler buchstäblich die Wände hochlaufen und zeigt sie als Grenzgänger und Suchende. Aus grundlegenden Fragen entwickelt sie ein brillantes Spiel im Spiel, in dem die Darsteller von der Gruppe, die spielerisch Normen setzt und deren Brüche sanktioniert, schnell zu Patienten und Ärzten werden. Was ist normal? Was ist real? Und was ist es nicht?

Geschickt setzt Gönenc in ihrer wunderschönen kleinen Inszenierung auf die Spielfreude ihrer Schüler: Jemanden spielen zu wollen, ist schließlich auch schon ein Schritt in eine andere Identität. Was die Darstellung der talentierten Schauspielschüler so packend macht, ist nicht nur ihre quirlige Vitalität, ihre aufrichtige Nachdenklichkeit, sondern, dass man in dieser Collage in jedem Wort, jeder Geste die innige, ernsthafte Auseinandersetzung mit Fragen um Norm und Regelbruch, Identität und Anderssein, Wirklichkeit, Wahn und Psychiatrie spürt. Gemeinsam gelingt ihnen so eine überzeugende, glänzende Teamarbeit.

(NGZ)
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