Konjunktur-Studie Mittelstandsbarometer Rhein-Kreis Neuss 2022 Die Wirtschaft boomt und bangt
Rhein-Kreis · Wären Deutschland und Europa nicht gerade im Dauerkrisenmodus, dürften im Rhein-Kreis die Korken knallen: Das neueste Mittelstandsbarometer, eine Studie und Umfrage zur konjunkturellen Lage in der Region, überrascht mit einem Geschäftsklima-Index auf Rekordniveau.
Mit einem Wert von 150 legt der regionale Geschäftsklimaindex des Mittelstandsbarometers im Vergleich zum Vorjahr um satte 24 Punkte zu – Allzeithoch. Allzeithoch? Während allenthalben Unternehmen über Rohstoffknappheit, existenzbedrohende Preissprünge bei Strom und Gas oder sogar drohende Produktionsstillstände bei einem Stopp der Gasversorgung klagen? Das Ergebnis, so erfreulich es ist, war selbst für die nach 15 Jahren Mittelstandsbarometer erfahrenen Initiatoren der jährlichen Umfrage bei 500 Unternehmen im Rhein-Kreis so überraschend, dass sie im August eine Kontrollbefragung bei noch einmal 125 Betrieben nachgeschoben haben.
Das Ergebnis des Teams von Konjunkturforschung Regional ist jedoch eindeutig: Auch Mitte/Ende August liegt der Geschäftsklimaindex bei 148. Das Fazit der Auftraggeber – Rhein-Kreis Neuss, Sparkasse Neuss, Creditreform und IHK Mittlerer Niederrhein – gab es am Dienstagmorgen in einem gut 100 Seiten starken Bericht: „Die regionale Wirtschaft erlebt einen in dieser Höhe unerwarteten ,Post-Corona-Konjunkturboom’.“ Die Einschätzung der Unternehmen in den acht Kommunen des Rhein-Kreises zur aktuellen und erwarteten Lage mit Blick auf Umsatz, Gewinn, Auftragslage und Personal ist deutlich positiver als bundesweit. Der Geschäftsklimaindex im Bund liegt bei nur 116.
Vom Boom im Rhein-Kreis profitieren alle Branchen, besonders Handwerk, Dienstleister und Verarbeitendes Gewerbe gewinnen drastisch. Eher unterdurchschnittlich legen Baugewerbe und Handel zu. Mit Blick aufs aktuelle Weltgeschehen warnen allerdings alle Beteiligten vor Fehlinterpretationen: „Es gibt viele Zeichen, die von überschwänglicher Freude ob des neuen Allzeithochs abhalten“, sagt André Becker, Geschäftsleitung Creditreform Düsseldorf. Anzeichen für konjunkturellen Pessimismus macht er vor allem an Bewertungen der regionalen Unternehmen zum negativen Einfluss des russischen Angriffskrieges in der Ukraine und den Folgen für die Energie- und Rohstoffversorgung fest. Angesichts dessen und einer möglichen neuen Coronawelle im Herbst sei daher „dringend vor zu viel Euphorie zu warnen“. Die coronabedingten Nachholeffekte überzeichneten die Lage- und Erwartungsurteile. Jürgen Steinmetz, Hauptgeschäftsführer der Industrie- und Handelskammer (IHK) Mittlerer Niederrhein, spricht sogar von einem „Potenzial für eine Rezession“.
Gleichzeitig machen die neuen Ergebnisse des Mittelstandbarometers aber auch deutlich, wie vergleichsweise stabil die Wirtschaft im Rhein-Kreis aufgestellt ist. Landrat Hans-Jürgen Petrauschke (CDU): „Dazu trägt die Vielfalt der Unternehmen und Branchen bei, aber auch die Haltung der Unternehmen: Sie resignieren nicht und zeigen eine enorme Widerstandsfähigkeit.“ Das gelte quer durchs Kreisgebiet, denn in allen Kommunen sei ein Aufwärtstrend zu erkennen. Überdurchschnittlich stark schnitten Dormagen, Neuss, Grevenbroich und Korschenbroich ab. „Nach dem Höhepunkt der Coronapandemie hat die Wirtschaft im Rhein-Kreis einen guten Neustart hingelegt“, sagt der Landrat. Gerade mit Blick auf die energieintensive Industrie im Kreis gelte es aber die Stressfaktoren Teuerung, Inflation und Energie sehr genau im Blick zu halten.
Hinzu komme, so betonen Petrauschke und Steinmetz gleichermaßen, der Fach- und Arbeitskräftemangel. „Das Problem ist konjunkturunabhängig“, sagt der IHK-Hauptgeschäftsführer. 50 Prozent der befragten Unternehmen (plus zehn Punkte im Vergleich zum Vorjahr) sehen ihre Wachstums- und Entwicklungschancen durch Mangel an qualifizierten Mitarbeitern behindert. „Besonders betroffen sind Bau, Handel und Dienstleister“, so Steinmetz.
Der IHK-Hauptgeschäftsführer verweist zudem auf eine veränderte Sichtweise des Strukturwandels im Rhein-Kreis: Der Bewertungstrend ist insgesamt negativer als noch vor einem Jahr. Dazu trägt – naheliegend vor dem Hintergrund der Energiekrise als Folge des Krieges in der Ukraine – auch die Bewertung des Braunkohleausstiegs bei. Derzeit beurteilen nur noch 29 Prozent (minus 15 Punkte) der Unternehmen Strukturwandel und Braunkohleausstieg eindeutig positiv mit mehr Chancen und Vorteilen. 65 Prozent der Firmen sehen „Chancen und Risiken“ beim Strukturwandel. Als negative Auswirkung wird am häufigsten eine „unsichere/teurere Energieversorgung“ (92 Prozent, plus 19 Punkte) genannt. Die Konsequenz aus Sicht des IHK-Hauptgeschäftsführers: „Ein früherer Ausstieg aus der Braunkohle ist unrealistisch, zumal Gas für Gaskraftwerke als Brückentechnologie derzeit nicht oder nicht im nötigen Umfang zur Verfügung steht.“ Alle politischen Bemühungen müssten sich derzeit auf die Versorgungssicherheit konzentrieren.
Ein positives Zeichen macht unterdessen Marcus Longerich, stellvertretender Vorstand Sparkasse Neuss, mit Blick auf die Investitionen der Unternehmen aus: Trotz eines Rückgangs bei der Investitionsbereitschaft (42 Prozent, minus sieben Punkte) zeigten die Investitionspräferenzen konjunkturellen Optimismus. So setzten die Unternehmen wieder deutlich stärker als im Vorjahr auf Erweiterungsinvestitionen (42 Prozent, plus zwölf Punkte) und auf Investitionen in Innovation (34 Prozent, plus zwei Punkte), oft verbunden mit Digitalisierung und Nachhaltigkeit. Beides, so Longerich, habe positive Effekte für die Effizienz und schlage sich so positiv in der Gewinn- und Verlustrechnung von Unternehmen nieder. „Unser Ziel muss weiter sein, die wirtschaftliche Belastung durch die Corona-Pandemie und den Krieg in der Ukraine für unsere mittelständischen Kunden so gering wie möglich zu gestalten“, sagt der stellvertretende Sparkassen-Vorstand. Die offensichtlich zurückgehende Investitionsbereitschaft der regionalen Wirtschaft gelte es positiv zu unterstützen.
Zu einer Prognose, wie das Mittelstandsbarometer im kommenden Jahr ausschlagen wird, wollte sich Rainer Bovelet, Konjunkturforschung Regional, diesmal nicht hinreißen lassen: „Im vergangenen Jahr haben wir eine ‚Extraportion Wachstum‘ angekündigt, das wiederholen wir jetzt nicht.“ Mittelfristig schätzten die Unternehmen ihre Perspektiven deutlich pessimistischer ein, das habe auch die Nachuntersuchung im August bestätigt. Besonders bei Bau, Handel und Handwerk sei ein negativer Trend trotz des noch anhaltenden Booms erkennbar. Bovelets Schlusssatz bei der Präsentation der Konjunkturstudie am Dienstag macht deutlich, wie unsicher die Lage trotz vordergründig glänzender Zahlen ist: „In einem Jahr wissen wir mehr!“