Neuss Rasante Tour durch Untiefen

Neuss · Neuss Ein "Glanz" möchte sie werden, denn als Glanz lachen einen die Leute nicht aus und man besitzt schöne Dinge wie den "Fee", den Pelzmantel, den Doris gestohlen hat, um ein wenig von jenem Leben in Samt und Seide zu ergattern, nach dem sie sich sehnt.

 Auf der Suche nach dem Glück schwankt „Das kunstseidene Mädchen“ (Bianca Künzel) zwischen Lebenslust und Verzweiflung.

Auf der Suche nach dem Glück schwankt „Das kunstseidene Mädchen“ (Bianca Künzel) zwischen Lebenslust und Verzweiflung.

Foto: NGZ

Neuss Ein "Glanz" möchte sie werden, denn als Glanz lachen einen die Leute nicht aus und man besitzt schöne Dinge wie den "Fee", den Pelzmantel, den Doris gestohlen hat, um ein wenig von jenem Leben in Samt und Seide zu ergattern, nach dem sie sich sehnt.

Eine junge Frau, die um ihren Traum kämpft, auch wenn er noch so unerreichbar scheint, ein Säufer, der sein Leben versäuft, weil er es nicht erträgt und der es nicht erträgt, weil er säuft, und schließlich ein Journalist, der zielstrebig den eigenen Selbstmord vorbereitet: Drei Figuren, grundverschieden in Temperament und Lebenssituation und doch allesamt Herausgefallene, Scheiternde, von ihrer Sehnsucht nach dem unbedingten Glück hinausgetrieben ins unwirtliche

Jenseits der Gesellschaft, standen sie im Mittelpunkt bei der "Nacht der Soli" im Theater am Schlachthof. Dabei nutzte die freie Bühne einfallsreich verschiedenste Spielorte innerhalb des Gebäudes an der Blücherstraße und präsentierte an einem Abend drei faszinierende, zeitgenössische Solostücke, allesamt inszeniert von jungen Regisseuren.

Wer von den Zuschauern durchhielt bis zum Ende, was rund drei Vierteln der Besucher mühelos gelang, bekam nicht nur - nette Idee - eine Theaterfreikarte sozusagen als Durchhalteprämie, sondern erlebte eine rasante, spannende und abenteuerliche Tour durch die Untiefen, Abgründe und über Klippen menschlichen Sehnens und Hoffens.

Umringt vom Publikum wie in einem Boxring, unentrinnbar öffentlich, fast obszön dem Blick preisgegeben, eröffnete Bianca Künzel als "Das kunstseidene Mädchen" auf der zweiten Bühne des TaS den Abend. Darin hat Regisseurin Miriam Michel Irmgard Keuns Erfolgsbuch aus den frühen dreißiger Jahren plausibel in die Gegenwart versetzt und zeigt die Hauptfigur Doris als obdachlose Glückssucherin, die ihr Leben nicht wie bei Keun als Tagebuch, sondern als Sammlung von Hörcassetten präsentiert.

Den Abstand zwischen dem ersehnten "Glanz" und der tristen Realität macht Michel dabei faszinierend ohrenfällig als Abstand zwischen klingender Melodie und Doris' anfangs noch melodiösem, zunehmend aber dissonant-verzweifeltem Gesang aus dem plärrenden Recorder. Bianca Künzel zeigt diese immer wieder scheiternde, immer wieder weitersuchende Figur so unendlich zart, so zornig, so verletzlich, hoffend zwischen Unschuld, Lebenslust und Verzweiflung, dass es direkt ans Herz geht und schwer fällt, nicht mit ihr zu weinen, zu lachen, zu verzweifeln.

Geschichte des Zerfalls

Im Foyer des Theaters ging es weiter mit Innenansichten eines Säuferlebens in "Rum und Wodka", einem Stück des Iren Conor McPherson. Im etwas derangierten, aber doch konservativ-angelsächsischem Outfit zeigte Jens Kipper brillant den hoffnungslosen Trinker, der an der Theke steht, säuft, raucht, schwankt und die Geschichte seines Lebens und des Ausstiegs daraus erzählt.

Ilva Melchior, mit 26 Jahren die jüngste der drei Regisseure dieses Abends, präsentiert diesen Fluchttrinker, der trinkend flüchtet aus der Sackgasse, zu dem sein Leben durch das Trinken geworden ist, als Allerweltstypen, wie er an beinahe jedem Tresen zu finden ist, lässt ihn reden und aufgehen in seinem Zorn, seinem Selbstmitleid, seinem ausweglosen Kosmos aus Pints, Wodka und Erbrechen. Jens Kipper zeigt diesen unrettbare Selbstzerstörer in all seinen Zwischentönen, als einen, dessen Leben allmählich aus der Bahn geriet, lange bevor er alles hinschmeißt und sich dem Suff ergibt.

Eine lange Geschichte des inneren Zerfalls setzte mit Peter Turrinis "Endlich Schluss" den Schlussakkord des Abends. In einem Gastspiel der Studiobühne Siegburg gestaltete Johann Wild in der Regie von René Böttcher die packenden letzten Momente eines erfolgreichen Journalisten, der bis tausend zählt, um sich am Ziel zu erschießen.

Ausgetreten aus der Welt honorierter Allerweltsmeinungen, die er beliebig, provokant, belanglos, abgesondert hat, ist der Countdown zum Tod sein letzter konsequenter Schritt in die Stille, einen Zustand jenseits der Worte und Meinungen, die ihm als einer seit langer Zeit durch den Verlust eines geliebten Du erodierten Persönlichkeit als einziges Streben geblieben ist.

Johann Wild zeigt den beredten Wortflüchter mit großem Körpereinsatz, sehnsüchtig, kämpfend, ausweglos und mit verzweifelter Entschlossenheit. - Ein außergewöhnlicher Abend, voller packender Bilder, Geschichten, so traurig, bewegend, wüst, wie das Leben.

(NGZ)
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