Stadtgeschichten Neusser Hauptfriedhof (57) Ort der Trauer, Sehnsucht, Stadtgeschichte

Neuss · Sie sind berühmt und gelten als touristische Ziele: Père Lachaise in Paris, der Dorotheenstädtische in Berlin oder der Melaten-Friedhof in Köln. Weniger prominent sind die Toten in Neuss, bescheidener ist die Grabanlage an der Rheydter Straße – aber ein Besuch lohnt auch dort.

 Allein schon ein Erlebnis besonderen Art: Gang über die Hauptallee des Neusser Friedhofs.

Allein schon ein Erlebnis besonderen Art: Gang über die Hauptallee des Neusser Friedhofs.

Foto: A. Woitschützke

Sie sind berühmt und gelten als touristische Ziele: Père Lachaise in Paris, der Dorotheenstädtische in Berlin oder der Melaten-Friedhof in Köln. Weniger prominent sind die Toten in Neuss, bescheidener ist die Grabanlage an der Rheydter Straße — aber ein Besuch lohnt auch dort.

 Auch ein beliebtes Motiv, das sich in vielfältiger Gestaltung auf dem Neusser Hauptfriedhof findet: Muttergottes mit dem Kind.

Auch ein beliebtes Motiv, das sich in vielfältiger Gestaltung auf dem Neusser Hauptfriedhof findet: Muttergottes mit dem Kind.

Foto: Woitschützke, Andreas

Max Tauch (77) kennt sich aus — in Neuss sowieso und auf dem Hauptfriedhof insbesondere. Behände springt er auf eine Steinplatte, befreit sie vom Efeu, poliert die verschmutzte Inschrift, die daran erinnert, dass dort die sterblichen Überreste von Menschen ruhen, die "ursprünglich um das St. Quirinus-Münster lagen". Mit flinken Schritten eilt er weiter.

 Ein beliebtes und Immer wiederkehrendes Motiv – auch auf dem Neusser Hauptfriedhof: Der auferstandene Christus mit dem Kreuz.

Ein beliebtes und Immer wiederkehrendes Motiv – auch auf dem Neusser Hauptfriedhof: Der auferstandene Christus mit dem Kreuz.

Foto: Woitschützke, Andreas

Erst vor dem Grabmal von Jakobus Poll bleibt er wieder stehen. Der Kunsthistoriker Tauch erklärt das Motiv. Der Todesengel weist auf den Himmel, an dem eine Libelle ihre Kreise zieht. Die Libelle als Symbol der Aufklärung vermischt sich mit christlichen Elementen. "Das ist ungewöhnlich", doziert Tauch, "zumal für einen Kanoniker." Alles deute darauf hin, dass der Verstorbene ein besonders aufgeschlossener, toleranter Katholik gewesen sei. Poll starb 1838 in Neuss. Das ist aus einem weiteren Grund interessant: Stein und Grab des Geistlichen wurde Ende des 19. Jahrhunderts auf den damals neuen Friedhof an der Rheydter Straße verlegt. Sein ursprünglicher Standort war der Bereich der heutigen Marienkirche.

 Ungewöhnlich ist die Darstellung mit der Sanduhr als Symbol des verrinnenden Lebens auf dem Grab von Carl Steins, "Vater der Heimatfreunde".

Ungewöhnlich ist die Darstellung mit der Sanduhr als Symbol des verrinnenden Lebens auf dem Grab von Carl Steins, "Vater der Heimatfreunde".

Foto: Woitschützke, Andreas

In der unmittelbaren Nachbarschaft der Poll'schen Ruhestätte entdeckt der Besucher eine ganze Reihe von nahezu 200 Jahre alten Grabsteinen, die Ausgangs des 19. Jahrhunderts umgesetzt wurden. Darunter das sehenswerte spätklassizistische Mal, das dem ehemaligen Posthalter Nepes gewidmet ist, der dort arbeitete, wo heute das Stadtarchiv beheimatet ist.

 Eines der ältesten Friedhofsdokumente: Ein barockes Grabkreuz, das einst auf dem alten Friedhof an der Krefelder Straße stand.

Eines der ältesten Friedhofsdokumente: Ein barockes Grabkreuz, das einst auf dem alten Friedhof an der Krefelder Straße stand.

Foto: Woitschützke, Andreas

Der Tod gehört zum Leben. Wie wahr diese Erkenntnis ist, erkennt einjeder, der auf den Friedhof geht. Allerheiligen, Allerseelen, Volkstrauertag, Buß- und Bettag, Totensonntag — der November gibt viele Terminanstöße, wieder einmal ein paar Stunden an der Rheydter Straße zu verbringen. Das Grab eines Verwandten oder lieben Freundes lohnt den Gang. Wer sich Zeit nimmt, der wird auf seinem Weg viele Namen entdecken, die ihm vertraut sind und er wird feststellen, wie seine Gedanken auf Reisen in die Vergangenheit gehen ...

Stadtgeschichten Neusser Hauptfriedhof (57): Ort der Trauer, Sehnsucht, Stadtgeschichte
Foto: Woitschützke, Andreas

In einer Zeit, in der das Sterben aus den Wohnungen verbannt wird, macht der Friedhofsbesuch bewusst, wie viel lebendige Erinnerung allein in Namen steckt. Der Besucher steht vor dem Grab von Carl "Karlchen" Kirchhoff und denkt an diesen Antihelden, der in den 1960er und 1970er Jahren stets den Schützenzügen vorauseilte und mit seinem Erscheinen den Zuschauern signalisierte: De Zoch kütt!

Längst sind Friedhofsbesuche wieder modern. Sogar zum Programm der Touristen gehören sie, zumindest wenn der Reisende dem Bildungsbürgertum angehört. Père Lachaise in Paris ist so ein Ziel. Dort fanden viele Prominente ihre letzte Ruhestätte, vor allem Künstler: Frédéric Chopin, Georges Bizet, Edith Piaf oder Jim Morrison, der charismatische Sänger der Doors. Das deutsche Gegenstück ist der Doro-theenstädtische Friedhof an der Chauseestraße in Berlin, wo Größen wie Bert Brecht, Bernhard Minetti oder Johannes Rau begraben liegen. In Köln gehört der Melaten-Friedhof an der Aachener Straße in diese prominente Kategorie. Willy Millowitsch, Rene Deltgen oder vor wenigen Wochen der Komiker Dirk Bach wurden dort zu Grabe getragen. Auch an so bekannte Vorbilder denkt, wer den Hauptfriedhof in Neuss betritt ... und für den Neusser sind die vertrauten Namen, die er an der Rheydter Straße liest, so prominent wie andernorts Schauspieler, Schriftsteller und Sänger.

An der Rheydter Straße verteilen sich 21 500 Grabstätten auf 53 Hektar. Eine gewaltige Fläche, in der Max Tauch wie in einem Geschichtsbuch liest. Auch für ihn ist der Friedhof ein Ort der Trauer. "Pit war mein Freund", sagt er und vermutet: "Der hat seinen Grabstein selbst entworfen." Peter Hermann "Pit" Schütz war ein bedeutender Neusser Künstler — und eben ein Freund Tauchs. Gemeinsam marschierten sie als "Bänkelsänger" bei der Schützenlust. Vis-á-vis ruht Irmgard Feldhaus, die als Vorgängerin von Tauch das Clemens-Sels-Museum leitete. Da auch die Grabstätte der Museumsgründer und Namensgeber Pauline und Clemens Sels nur einige Meter entfernt liegt, spricht Tauch augenzwinkernd von der "Museumsecke" auf dem Neusser Hauptfriedhof.

Ein Gang über den Neusser Hauptfriedhof kommt einem Gang durch die jüngsten zwei Jahrhunderte der Stadtgeschichte gleich. Die Namen der Toten schreiben das "Who ist Who" der Neusser Persönlichkeiten. Der Weg führt an Oberbürgermeistern wie Carl Wenders, Peter Wilhelm Kallen, Herbert Karrenberg oder Hermann Wilhelm Thywissen vorbei, an Schützenkönigen wie Hermann Straaten, Hejo Konrads, Karl Herbrechter oder Alex Wissmann. Unternehmer wie Firmengründer Wilhelm Werhahn liegen dort begraben, aber auch Karl Tücking, der "Königliche Gymnasialdirektor", der Ende des 19. Jahrhunderts eine bis heute beachtete Stadtchronik verfasste.

Schon ist Max Tauch wieder unterwegs. Er will noch zum Grab von Carl Steins, dem "Vater der Heimatfreunde": "Der hat eine Pyramide."

(NGZ/ac)
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