Neuss "Ohne Tafel käme ich nicht über die Runden"

Neuss · Marianne Koch bekommt nur 615 Euro Rente. Die 74-Jährige lebt deshalb von dem, was Geschäfte aussortieren und der Tafel spenden.

 Seit sieben Jahren Tafel-Kundin: Marianne Koch fiel es anfangs schwer, im Tafel-Laden einzukaufen. "Ich bin geradezu verschämt hier gekommen", sagt sie rückblickend.

Seit sieben Jahren Tafel-Kundin: Marianne Koch fiel es anfangs schwer, im Tafel-Laden einzukaufen. "Ich bin geradezu verschämt hier gekommen", sagt sie rückblickend.

Foto: Berns, Lothar (lber)

Die Schlange vor der Eingangstür zum Tafel-Laden ist lang. Unter den Wartenden steht - wie jeden Montag - auch Marianne Koch. Seit etwa sieben Jahren ist die 78-Jährige Stammkundin im Laden der gemeinnützigen Neusser Tafel. Hier erhalten Menschen, die zunächst ihre Bedürftigkeit mit Renten oder Sozialbescheiden belegen müssen und dann auf Karteikarten erfasst werden, die Möglichkeit, sich mit frischen Lebensmitteln zu versorgen. Je nachdem, welche Waren die zahlreichen Sponsoren der Neusser Tafel überlassen, gibt es ein unterschiedliches Angebot.

 Gähnende Leere: So sieht Kochs Kühlschrank aus, bevor sie zur Tafel geht.

Gähnende Leere: So sieht Kochs Kühlschrank aus, bevor sie zur Tafel geht.

Foto: Berns, Lothar (lber)

"Weil der Andrang so groß ist, lassen wir in den Verkaufsraum immer nur fünf Leute gleichzeitig rein. Sonst wäre das Gedränge zu groß", erklärt Jihad Oueli. Sie ist eine der wenigen Angestellten bei der Neusser Tafel, die gemeinsam mit der Ehrenamtlerin Elisabeth Hannen neue Bedürftige erfasst.

Neuss: "Ohne Tafel käme ich nicht über die Runden"
Foto: Berns, Lothar (lber)

Hinter der Theke sortiert, wie jeden Montag, Helga Burchartz - eine von 40 ehrenamtlichen Helferinnen - die Lebensmittel. Die 74-Jährige arbeitet seit fast sieben Jahren für die Tafel und kennt Marianne Koch gut. Als diese Birnen wünscht, fragt Burchartz nach: "Drei Stück - wie immer?" Sie weiß genau, was Marianne Koch, die erst vor kurzem eine schwere Operation überstanden hat, verträgt und essen mag.

 Fester Termin: Montags darf sich Koch den Kühlschrank voll machen.

Fester Termin: Montags darf sich Koch den Kühlschrank voll machen.

Foto: Berns, Lothar (lber)

Die zwei kleinen Körbchen, die jeder Bedürftige mit Waren füllen darf, sind schnell voll. Marianne Koch strahlt. Denn neben Paprikaschoten, Weintrauben, Bananen, Tomaten sind sogar ein Wirsingkohl und einige Süßigkeiten dabei. "Diesmal habe ich sogar noch ein Stück Speck bekommen. Darüber freue ich mich besonders." Zwei Euro muss jeder Kunde anschließend bezahlen.

Marianne Koch geht mittlerweile ganz offen mit ihrer Bedürftigkeit um. Bei ihren ersten Besuchen bei der Tafel sei das noch anders gewesen. "Mir fiel es schwer, und ich bin geradezu verschämt hierher gekommen", erinnert sie sich. Heute sagt sie aber: "Es ist gut, dass es diese Einrichtung gibt. Denn ich wüsste nicht, wie ich sonst über die Runden kommen sollte." Mit ihrem roten Trolley, den eine ihrer Töchter ihr zum Geburtstag geschenkt hat, macht sie sich nach dem Einkauf auf den weiten Rückweg mit Bus und Bahn nach Reuschenberg. "Vor fünf Uhr bin ich nicht zu Hause", so Koch, die im Blumenviertel in einer 45-Quadratmeter-Wohnung des Bauvereins lebt.

Marianne Koch hat immer ein entbehrungsreiches Leben gehabt. Fünf Kinder hat sie großgezogen, war hauptberuflich Hausfrau und Mutter. Ihr erster Mann verstarb so jung, dass sie Sozialhilfe beantragen musste. Später heiratete sie erneut, zog mit ihren Kindern nach Baden-Württemberg, wo diese auch heute noch leben. "Mein zweiter Mann ist mittlerweile auch verstorben. Aber weil wir geschieden waren, erhalte ich keine Witwenrente", sagt Koch.

Nach ihrer Scheidung zog es die gebürtige Neusserin wieder zurück in ihre Heimatstadt. Marianne Koch, die keinen Beruf erlernt hat, jobbte ein wenig. Anderthalb Jahre versuchte sie sich auch als Subunternehmerin und managte den Kiosk am Etienne-Krankenhaus - bis dieser geschlossen wurde. Für eine anständige Rente reichen diese wenigen Berufsjahre nicht. "Pro Kind bekomme ich zwar neuerdings Mütterrente. Aber das sind ja nur 28 Euro pro Monat. Das ist eigentlich ein Witz", entrüstet sich die Rentnerin. "Dabei habe ich alle meine Kinder gut erzogen, die heute wiederum brave Steuerzahler sind."

Als Grundsicherungsempfängerin bekommt Marianne Koch eine Rente von 615 Euro, die mit 288 Euro Grundsicherung von der Stadt Neuss aufgestockt wird. Davon gehen wiederum 445 Euro Miete ab, Heiz-, Strom- und Wasserkosten kommen noch hinzu, ebenso Versicherungs- und Telefonkosten. "Da bleibt nicht viel für mich", sagt Koch. Denn Kleidung, nicht verschreibungspflichtige Medikamente, Körperpflege- sowie Putzmittel benötige sie ja auch. Und Lebensmittel wie Butter, Öl, Zucker, Fleisch, Fisch und Käse gäbe es nicht so oft bei der Tafel, sagt Koch.

Die Vorsitzende der Neusser Tafel, Rebecca Schuh, kennt derartige Schicksale zuhauf. "Armut ist weiblich - egal ob Alleinerziehende oder Rentnerinnen. Im Durchschnitt haben Frauen eine Rente von 800 Euro monatlich. Das reicht überhaupt nicht." Etwa 100 Rentnerinnen, die ein vergleichbares Schicksal wie Marianne Koch erfahren haben, kommen pro Woche zur Tafel.

"Insgesamt versorgen wir wöchentlich etwa 700 Menschen in Neuss, weitere 130 in Kleinenbroich und seit der zusätzlichen Flüchtlingsstunde am späten Mittwochnachmittag etwa 40 bis 50 Flüchtlinge", erzählt Rebecca Schuh. Vor fast 20 Jahren hat sie den Verein, der zu einer der ersten 25 Tafeln Deutschlands gehört, gegründet. Erst vor vier Jahren war die Tafel von der Rheinstraße ins Barbaraviertel umgezogen, um Kleiderkammer und Lebensmittelausgabe an einem Ort zu bündeln. Doch trotz der 300 Quadratmeter an der Düsseldorfer Straße platzt die Tafel aus allen Nähten. Zum 20-jährigen Bestehen, das im Sommer gefeiert wird, möchte Schuh einen neuen Standort finden. Doch aufgrund der angespannten Flüchtlingssituation sind große Gebäude, die auch noch zentrumsnah liegen, nur schwer zu bekommen. "Hinzu kommt, dass uns nicht jeder in der Nachbarschaft haben will", so Schuh.

Größeres Kopfzerbrechen macht ihr aber der immense Spendeneinbruch im vergangenen Jahr. "Um 50 Prozent sind die privaten Spenden zurückgegangen", erzählt die 62-Jährige. "Es war unser schlechtestes Jahr." Dabei sei die Tafel auf Spenden dringend angewiesen, die benötigt werden, um Kosten für die Autos zum Transport der Waren, Versicherungen, Miete, Nebenkosten abdecken zu können. "Wir leben ausschließlich von Spenden", sagt Schuh.

Die Spenden sind rückläufig, gleichzeitig steigt die Zahl bedürftiger Menschen. Weil die Schlangen immer länger wurden, hat die Neusser Tafel neuerdings ein Farbsystem eingeführt. "Seitdem ist jede Karteikarte mit einer Farbe versehen", erklärt Jihad Oueli. "Drei Farben gibt es, und jeden Monat wechselt das Farbsystem", so Oueli weiter. Je nachdem, welche Farbe aktuell ist, dürfen jene Karteikarteninhaber zuerst den Vorraum der Tafel betreten. Marianne Koch freut sich über das neue System: "So hat jeder mal die Möglichkeit, als erster einkaufen zu können."

Trotz des neuen Systems steht sie jeden Montag bereits ab 14.15 Uhr vor der noch verschlossenen Tür an der Düsseldorfer Straße und wartet mit vielen anderen darauf, eingelassen zu werden. Ihre Kinder wissen um die Bedürftigkeit der Mutter. "Hin und wieder stecken sie mir etwas Geld zu", erzählt Koch. Doch obwohl alle Arbeit haben, bleibe auch bei denen nicht viel über. "Einer meiner Söhne ist Maler, hat selbst vier Kinder. Da bin ich glücklich, dass es die Tafel gibt."

(NGZ)
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