Inklusion in Neuss Das Gefühl, etwas bewirken zu können

Neuss · Arbeiten gehört zum Selbstverständnis von Nesrin Albay-Cetin, die seit neun Jahren einen Rollstuhl benötigt.

Gearbeitet hat Nesrin Albay-Cetin immer schon – gern und viel. Dabei will sich die 48-Jährige auch nicht von ihrer Behinderung ausbremsen lassen. Doch es ist nicht einfach, einen Arbeitgeber davon zu überzeugen, eine Frau im Rollstuhl zu beschäftigten. „Oft gibt es Befürchtungen, dass mir etwas passieren könnte“ – und dass dies dann für Probleme sorgt, berichtet Nesrin Cetin von ihren Erfahrungen bei der Jobsuche. Dabei betont die gelernte Verkäuferin, die auch als Reinigungskraft und Hausdame am Flughafen gearbeitet hat: „Ich kann Vieles, was Gesunde auch machen. Dass ich im Rollstuhl sitze, heißt nicht, dass ich nicht arbeiten könnte.“

Und sie will arbeiten. Nicht nur, aber auch um ihre bescheidene Rente mit ein paar Euro aufzubessern. Viel wichtiger ist ihr jedoch, sich in die Gesellschaft einzubringen. Und sich selbst ebenso wie anderen zu beweisen, dass sie etwas leisten kann. Nichts mehr bewirken zu können – das wäre ihre größte Furcht. „Ich will mich nicht nur mit Krankheiten beschäftigen. Das soll nicht mein Leben sein“, sagt die lebhafte Neusserin.

Krankheiten haben zu oft ihr Leben bestimmt: Sie ist 26, als ein Zittern auftritt, dann erste epileptische Anfälle. „Stress“, diagnostiziert ein Arzt, der sie untersucht, nachdem sie bewusstlos geworden ist. 2003 Zusammenbruch: Ihre beiden älteren Töchter, damals acht und sechs Jahre alt, verständigen den Notarzt. „Ich hatte ein Angiom, einen Blutschwamm im Gehirn. Bei der OP hatte ich den ersten Schlaganfall“, erzählt Nesrin Cetin. Zwei weitere Schlaganfälle folgen. Als sie nach einem Jahr Reha-Aufenthalt nach Hause kann, ist ihr Mann fort. Damals kann Nesrin Cetin noch mit Hilfe eines Stocks gehen. Doch durch die einseitige Belastung verschiebt sich das Skelett, die Schmerzen in Hüfte und Rücken werden unerträglich. Irgendwann geht es nicht mehr ohne Rollstuhl.

Es gab dunkle Zeiten, in denen sie kurz davor war aufzugeben. Doch es steckt wohl eine Kämpfernatur in der zarten Frau. „Meine Familie, vor allem mein ältester Bruder, hat mir in dieser Situation sehr geholfen“, sagt sie dankbar. Kraft geben ihr bis heute die drei Töchter, die ihre Mutter großartig unterstützen.

Und die lässt sich nicht unterkriegen. Auch nicht von einer Krebserkrankung vor drei Jahren. Die hat sie überwunden und sagt: „Bei jeder Erkrankung, jeder Operation lerne ich etwas dazu. Das ist das Leben.“ Dass sie so Vieles überstanden hat, gibt ihr das Vertrauen, auch noch Weiteres zu verkraften – wenn es denn dazu kommen sollte.

So viel wie möglich von diesem Lebensmut möchte Nesrin Cetin an andere weitergeben. Darum engagiert sie sich seit fünf Jahren ehrenamtlich als Integrationslotsin der Stadt Neuss, verbringt oft mehrere Stunden täglich mit den ihr Anvertrauten auf Ämtern, im Jobcenter oder bei Krankenkassen, begleitet sie zu Elternabenden in der Schule oder füllt mit ihnen Formulare aus. Auch für die Psychologische Beratungsstelle des Neusser Jugendamtes wurde sie wiederholt tätig, betreute jugendliche Flüchtlinge. „Sehr gerne würde ich etwas mit Menschen mit Behinderung machen“, erzählt sie, „sie aus ihren Wohnungen holen, hören, welche Probleme sie haben, gegenseitige Hilfe organisieren.“ Sie selbst kann sich auf ein funktionierendes Netzwerk stützen. „Es gibt Menschen, die hinter mir stehen und mich bestärken“, sagt sie. Und wenn ihre Freunde ohne Behinderung keine Rücksicht mehr auf ihren Rollstuhl nehmen, findet sie das gut. Das zeige doch, dass sie nicht in erster Linie als behindert wahrgenommen werde, sagt sie: „Und so sollen sie mich auch nicht behandeln.“

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