Urteil im Prozess um getöteten Jörg aus Neuss Die Frage nach dem Warum bleibt ungeklärt

Neuss/Düsseldorf · Ein knappes Jahr nach dem Tod des elfjährigen Jörg wird sein Onkel zu zehn Jahren Haft verurteilt - doch es gibt Zweifel an seiner Schuld. Die Staatsanwaltschaft leitet gegen die Ehefrau des Angeklagten wohl ein Ermittlungsverfahren ein.

Gericht verurteilt Sven F. zu zehn Jahren Haft
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Gericht verurteilt Sven F. zu zehn Jahren Haft

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Foto: dpa/Christophe Gateau

Um kurz nach 9.30 Uhr geht ein lautes Raunen durch den Saal. Natascha F., Mutter des getöteten Jörg (11), bricht in Tränen aus. Ihr Bruder auf der Anklagebank vernimmt das von Richter Markus Immel verkündete Urteil nahezu regungslos: Kostenpflichtiger Inhalt Zehn Jahre muss der 41 Jahre alte Neusser wohl ins Gefängnis. Wegen gefährlicher Körperverletzung mit Todesfolge und schwerer Misshandlung von Schutzbefohlenen. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.

Für die Kammer des Landgerichtes steht fest: Es war Sven F., der seinem Neffen - zu diesem Zeitpunkt lebte der Junge bei ihm in Weckhoven - am 5. Oktober 2017 im Badezimmer einen so schweren Schlag verpasste, dass dieser rücklings in die Wanne stürzte. Der zweite Gewaltakt, bei dem die Kammer sicher ist, dass Sven F. sie seinem Neffen antat: Er fügte ihm mit der Handbrause der Badewanne schwere Verbrühungen zu. Der Junge wurde von Rettungskräften in der Wohnung reanimiert, erlag aber später seinen Verletzungen.

Zu Beginn des Prozesses war Natascha F. als Nebenklägerin noch von der Schuld ihres Bruders überzeugt. „Er hat mir meinen Sohn weggenommen“, sagte sie unter Tränen. Doch im Verlaufe des Prozesses veränderte sich die Wahrnehmung der Neusserin. Nachdem ihr Bruder sein anfängliches Geständnis widerrufen hatte und dafür seine Ehefrau beschuldigte – die wenig später vor Gericht gestand, den Jungen im Badezimmer geschlagen zu haben - stand für Jörgs Mutter fest: Die Frau ihres Bruders ist die eigentliche Täterin. Darum stellte die Nebenklage auch keinen Strafantrag, während Sitznachbar - Staatsanwalt Martin Stücker - eine lebenslange Haftstrafe forderte. Vor der Urteilsverkündung am Dienstag vermutete Natascha F. bereits: „Womöglich muss Sven unschuldig in den Knast.“ Der langwierige Prozess mit all seinen Wendungen hat die Mutter sichtbar mitgenommen. Unserer Redaktion berichtete sie von Schlafstörungen, in psychologische Behandlung habe sie sich längst begeben.

Neuss: Prozess um getöteten Jungen Jörg F. in Neuss startet
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Prozessauftakt um getöteten Jungen in Neuss

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Foto: dpa/Federico Gambarini

Richter Markus Immel richtete folgende Worte an die Mutter: „Es ist natürlich einfacher für Sie, zu glauben, es wäre seine Ehefrau gewesen.“ Dies sei jedoch auszuschließen. Der Schwurgerichtsvorsitzende nannte dafür zahlreiche Aspekte in seiner rund zweistündigen Urteilsverkündung. So stützte er sich unter anderem auf Aussagen von Freunden der Familie F., die wenige Tage vor der Tag zu Besuch in der Weckhovener Wohnung waren und einen Eindruck von Jörg und seinem Onkel bekamen. Ihren Aussagen zufolge habe Jörg regelrecht „stramm gestanden“, wenn sein Onkel ihm etwas sagte. Zudem habe der Elfjährige in den Tagen vor der Tat ausgesehen „wie ein Preisboxer“. Die medizinische Untersuchung ergab: Jörgs Körper war nicht nur von neuen, sondern auch von alten Verletzungen übersät. Woher diese stammen? Diese Frage konnte im Verlauf des Prozesses nicht eindeutig geklärt werden.

Ein weiterer Aspekt, auf den der Richter aufmerksam machte: Zeugenaussagen zufolge soll der Angeklagte bereits seinen ältesten Sohn so heftig geschlagen haben, dass er einen Handabdruck im Gesicht des Jungen hinterließ. Auch wenn Sven F. während des Verfahrens stets betonte, sich „eher einen Arm abzuhacken“, bevor er ein Kind schlage. Der Richter erinnerte zudem an ein Lichtbild, das auf dem Handy des Angeklagten gefunden wurde. Auf diesem blickt Jörg kniend und offensichtlich malträtiert nach oben in die Kamera. „Auch das ist Gewalt“, sagte der Richter.

Nicht nur die Nebenklage ist dennoch weiterhin von der Unschuld des Neussers überzeugt. Auch Pflichtverteidigerin Dagmar Loosen kündigte Minuten nach dem Urteil an, in Revision gehen zu wollen. Und die Ehefrau von Sven F.? Gegen sie leitet die Staatsanwaltschaft Düsseldorf wohl ein Ermittlungsverfahren ein. Ihre Kinder sind mittlerweile anderweitig untergebracht.

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