Landtagsabgeordneter Jörg Geerlings (CDU) aus Neuss Die Neusser Innenstadt braucht urbanes Leben

Interview | Neuss · Aus für Galeria Kaufhof und die Alu-Hütte, Flüchtlingsfragen und das Wahlrecht – Positionen vom Neusser Landtagsabgeordneten Jörg Geerlings (CDU).

Der Neusser Landtagsabgeordnete Jörg Geerlings (CDU) sorgt sich um die Unabhängigkeit der Industrie. Das Aus für die Aluminiumhütte von Speira in Neuss zeige beispielhaft, wie die Abhängikeit von Zulieferern aus dem Ausland wachse.

Der Neusser Landtagsabgeordnete Jörg Geerlings (CDU) sorgt sich um die Unabhängigkeit der Industrie. Das Aus für die Aluminiumhütte von Speira in Neuss zeige beispielhaft, wie die Abhängikeit von Zulieferern aus dem Ausland wachse.

Foto: CDU

Herr Geerlings, Galeria Kaufhof in Neuss schließt am 30. Juni. Was braucht es jetzt, um die Neusser Innenstadt zu stärken?

Jörg Geerlings Das ist eine ganz bittere Entscheidung, die weit weg von Neuss ohne Rücksicht auf lokale Gegebenheiten getroffen wurde. Vor allem für die Mitarbeiter ist es ein schwerer Schlag. Der Kaufhof war – wenn auch in letzter Zeit sicher abgeschwächt – immer noch ein Magnet, der für Frequenz in der Innenstadt gesorgt hat. Alle Kräfte müssen nun gemeinsam mit den Eigentümern überlegen, was man an der Stelle machen kann.

Mit welchen Folgen rechnen Sie?

Geerlings Die Frequenz wird fehlen, was negative Auswirkungen im Umfeld hat. Das Kaufhof-Gebäude markiert den Mittelpunkt in der Einkaufs-Innenstadt. Verwaltung, Politik und natürlich die Eigentümer müssen sich zusammensetzen und einen langfristig tragfähigen Plan für diese zentrale Stelle im Hauptstraßenzug entwickeln. Ob das Gebäude in der jetzigen Form zu verwenden ist, muss man prüfen. Einzelhandel ist sicher nicht die einzige Option. Der Handel in den Städten hat es bekanntermaßen schwer, selbst das Rheinpark-Center hat mit Leerständen zu kämpfen.

Braucht eine Stadt wie Neuss –  direkt neben Düsseldorf, nicht weit von Köln – angesichts der Entwicklungen im Handel nicht ein Konzept, das die Funktion der Innenstadt neu definiert?

Geerlings Was immer ein Problem war in der Innenstadt, ist die sehr lang gezogene Einkaufsstraße. Das sieht man deutlich: Die Krefelder Straße hat einen ganz anderen Charakter als zum Beispiel der Büchel. Andererseits lebt eine Innenstadt immer noch vom Einzelhandel. Verwaltung, Freiberufler, diverse Institutionen, Büros, auch viele Wohnungen – all das kommt in einer Innenstadt zusammen. Das bietet auch dem Handel Möglichkeiten.

Es gibt ja auch Städte, in denen das noch funktioniert...

Geerlings Das funktioniert mancherorts noch, allerdings sind das oft Städte, die eine stärkere Zentralitätsfunktion haben. Neuss hat nun einmal den Vor- und Nachteil gleichermaßen, direkt neben Düsseldorf und unweit von Köln zu liegen. Es gibt gute Landesprogramme, um die Innenstädte zu stärken. Am Ende kommt es vor allem darauf an, dass man Leben in die Innenstädte bekommt, wenn es keine reine Schlafstadt sein soll. Neuss hat – zu Recht – den Anspruch, weiter Urbanität und Lebensqualität bieten zu wollen. Und dazu gehört weiter auch der Einzelhandel, bei dem der Onlinehandel eine große Herausforderung darstellt.

Es gibt Ansätze, auch die Innenstädte wieder verstärkt fürs Wohnen zu erschließen. Sinnvoll?

Geerlings Das kann ein Ansatz sein, aber am Ende lebt eine attraktive Einkaufsstadt vor allem von den Kunden, die von außen kommen. Die Bewohner der Zentren allein reichen nicht. Die Menschen müssen auch Lust haben, zum Beispiel samstags wieder stärker in die Stadt zu gehen, einzukaufen, den Markt zu erleben, die Gastronomie zu nutzen.

Die Kommunen haben jüngst einen Brandbrief an Bundeskanzler Olaf Scholz geschrieben und mit Blick auf die Herausforderung, immer mehr Flüchtlinge unterbringen zu müssen, um Hilfe gebeten. Jetzt gibt es Geld vom Land. Alles gut also?

Geerlings Allein die Kommunen in NRW erhalten von Land rund 1,9 Milliarden Euro – mehr als das Dreifache von dem, was Nordrhein-Westfalen nach aktuellem Stand vom Bund erhält. Insgesamt wird das Land 3,7 Milliarden Euro für die Unterbringung und Integration von Flüchtlingen ausgeben. Wir setzen also richtig was drauf. Unsere Stadt leistet bei der Aufnahme von Menschen aus der Ukraine viel, aber sie steht dabei vor großen finanziellen und logistischen Herausforderungen. In dieser Situation tut das Land alles dafür, Neuss bei diesem Kraftakt zu unterstützen. Mit knapp 3,3 Millionen Euro hilft das Land ganz konkret noch mal zusätzlich da, wo es akut ist: bei der Schaffung, Unterhaltung und Herrichtung von Flüchtlingsunterkünften.

Und das reicht?

Geerlings 3,3 Millionen Euro sind schon eine stattliche Summe, mit der man gestalten kann und die ja zusätzlich kommt. Dabei geht es nicht nur um den finanziellen Ausgleich. Wichtig ist, dass Räumlichkeiten geschaffen werden. So wird immer noch versucht, weitere Landesimmobilien freizuziehen. In Neuss gibt es bereits schon die Zentrale Unterbringungseinrichtung (ZUE) des Landes am Rennbahnpark. Tatsache ist jedoch: Der Wohnungsmarkt ist angespannt und die Bautätigkeit sinkt in der aktuellen Situation, die Versprechungen der Bundesregierung von 400.000 Wohnungen pro Jahr werden nicht eingehalten. Positiv ist, dass in der Bevölkerung weiterhin eine große Solidarität zu spüren ist, gerade mit Blick auf die Flüchtlinge aus der Ukraine.

Nun wird die Zahl der Flüchtlinge erwartbar nicht sinken...

Geerlings So ist es. Die Flüchtlinge werden nicht plötzlich wieder weg sein. Der Großteil bleibt.

Laufen die Abschiebungen so, wie Sie sich das vorstellen?

Geerlings Nein. Zwar weist NRW im Bundesvergleich die größte Anzahl an Abschiebungen auf, rund 3100 im letzten Jahr, aber die Verfahren dauern oft sehr lange. Es gibt zudem Gebiete, in die nicht abgeschoben werden kann: Syrien ist zum Beispiel als Kriegsgebiet ausgeschlossen. Aber es gibt auch Grenzfälle: Wer straffällig geworden ist, muss auch abgeschoben werden. Und trotzdem dauert es oft zu lange.

Hohe Flüchtlingszahlen machen sich auch in Kitas und Schulen bemerkbar, die ohnehin bereits stark ausgelastet sind. Wie reagiert das Land?

Geerlings Das Land stellt beträchtliche Mittel zur Verfügung, trotzdem fehlt es leider oft an den Menschen, die wir für diese Aufgaben brauchen. Das ist in vielen Bereichen ein Problem: Wir haben in den letzten fünf Jahren 10.000 neue Lehrer eingestellt und wir haben das Gleiche auch noch einmal für diese Wahlperiode vor. Das Geld im Haushaltsplan stellen wir zur Verfügung. Jetzt geht es darum, Menschen für diese Aufgaben zu gewinnen.

Wie lässt sich das befördern?

Geerlings Bei den Grundschulen zum Beispiel wurde die Besoldung erhöht. Grundschullehrer bekommen jetzt sofort A13, die Eingangsbesoldung eines Lehrers auf einer weiterführenden Schule. Auch die Ausbildungskapazitäten werden erweitert. Es gibt also mehr Studienplätze.

Wie steht es um das beitragsfreie dritte Kita-Jahr? Auch die Stadt Neuss, die das derzeit auf eigene Kosten finanziert, wartet auf die Umsetzung durch das Land.

Geerlings Wir haben gemeinsam mit den Grünen im Land vereinbart, das dritte Jahr beitragsfrei zu machen, und das werden wir in der laufenden Wahlperiode auch umsetzen.

Ein Blick auf die Wirtschaft in Neuss. Speira legt seine Aluminiumhütte still. Was ist zu tun, damit nicht weitere energieintensive Industriebetriebe schließen oder abwandern?

Geerlings Günstige Industriestromtarife wären eine Möglichkeit, zu helfen. Es gibt ja einen Deckel für die Stromkosten, der ist allerdings weit weg von einer Größenordnung, die eine weltmarktfähige Produktion zulassen würde. So höre ich es von vielen Unternehmen. Bei Speira sind schon 300 von 5000 Arbeitsplätzen im Rhein-Kreis betroffen, man muss aber befürchten, dass das nur der Anfang ist. Auch anderswo gibt es energieintensive Industrie, der Chempark in Dormagen ist da nur ein Beispiel. Eine andere Gefahr ist wachsende Abhängigkeit von Zulieferungen aus dem Ausland. Speira produziert kein Primäraluminium mehr, sondern kauft es ein. 60 Prozent der Weltmarktproduktion von Aluminium kommen heute bereits aus China. Natürlich verbleibt mit den übrigen Speira-Werken und Alu-Norf noch viel Wertschöpfung im Rhein-Kreis, die Unabhängigkeit unserer Industrie allerdings sehe ich gefährdet.

Muss die Frage eines günstigen Industriestroms zwangsweise auf EU-Ebene entschieden werden oder könnte Deutschland nicht einen eigenen Weg gehen?

Geerlings Das ist auch eine Wettbewerbsfrage, bei der die Bundesregierung mit der EU-Kommission verhandeln muss. Ich hoffe, dass zeitnah Ergebnisse erzielt werden, bevor noch weitere Unternehmen schließen müssen. Wir stecken im Rheinische Revier ohnehin im Strukturwandel und müssen darauf achten, dass wir zwar auch in Forschung und Entwicklung investieren, vor allem aber in industrielle Wertschöpfung, die viele gute Arbeitsplätze garantiert.

Ist die Wirtschaftsförderung in Neuss gut aufgestellt, um solche Prozesse zu begleiten?

Geerlings Wirtschaftsförderung ist entscheidend für unseren Standort und es wäre gut, wenn man das große Potenzial von Neuss auch ausschöpft.

Themenwechsel: Wie stehen Sie als Politiker und Jurist zu den Plänen der Ampel in Berlin, den Bundestag zu verkleinern?

Geerlings Das Ziel einer Verkleinerung des Bundestages ist richtig. Wenn aber Kandidaten, die in einem Wahlkreis direkt von den Wählerinnen und Wählern gewählt werden, nicht mehr in den Bundestag einziehen, nur weil sie möglicherweise sehr knapp gewonnen haben, halte ich das für verfassungswidrig. Der Gang zum Bundesverfassungsgericht ist unvermeidbar und es würde mich nicht wundern, wenn die jetzt von der Ampel angestrebte Regelung beim Bundesverfassungsgericht durchfällt. Vielleicht gibt es im Bundestag noch einmal einen Anlauf für eine gemeinsame Lösung.

Ein Blick auf die CDU in Neuss: Bei der Neuwahl des Fraktionsvorstandes hat Parteichef Jan-Philipp Büchler ein vergleichsweise schwaches Ergebnis kassiert. Ist er als Bürgermeisterkandidat bei der nächsten Kommunalwahl noch eine Option?

Geerlings Ich gehe davon aus, dass unser Parteivorsitzender Jan-Philipp Büchler rechtzeitig und gemeinsam mit dem Parteivorstand einen Vorschlag unterbreiten wird.

Beeinflusst das Nachrücken des Grevenbroichers Daniel Rinkert (SPD) in den Bundestag die Entscheidungsfindung der CDU mit Blick auf die Kandidatur im „Hermann-Gröhe-Wahlkreis“ Neuss I?

Geerlings Ich freue mich, dass Hermann Gröhe erneut direkt den Wahlkreis gewinnen konnte und unsere Heimat, ebenso wie Ansgar Heveling, hervorragend im Bundestag vertritt. Die SPD ist in der Situation, stets die schlechte Politik der von ihr geführten Ampel-Koalition verteidigen zu müssen.

Wer wird nächster Landrat im Rhein-Kreis?

Geerlings Die CDU hat hervorragende Persönlichkeiten, die potenziell infrage kommen, sollte Hans-Jürgen Petrauschke nicht mehr antreten, zum Beispiel die stellvertretende Landrätin Katharina Reinhold.

Und noch einmal Neuss: Wie geht die CDU mit der zerfallenen Kooperation SPD/Grüne Plus um? Erleben wir eine „Groko“ im Stadtrat?

Geerlings Ich unterstütze die Position des CDU-Fraktionsvorsitzenden Sven Schümann: Wir müssen uns die einzelnen Themen genau anschauen. Natürlich sieht sich die CDU in der Verantwortung für die Stadt Neuss. Das haben wir in der Etatdebatte bekräftigt, auch wenn wir dem Haushalt letztlich nicht zustimmen konnten, weil unsere wesentlichen Vorschläge abgelehnt wurden. Eine Große Koalition ist aus meiner Sicht nicht die richtige Antwort auf das Auseinanderfallen der Kooperation. Vielleicht lassen sich Fehlentwicklungen in der Stadt, etwa beim Thema Mobilität und Verkehr, jetzt korrigieren. Auch wünsche ich mir eine sehr aktive Wirtschaftsförderung, die insbesondere dem Mittelstand zugewandt ist. Der Sport ist ein anderes Thema: Unsere Vereine sollten gut aufgestellt sein und auf eine gute Infrastruktur bauen können. Sportpolitik ist immer auch Sozialpolitik! In der Vergangenheit konnten wir dafür nicht immer Gehör finden. Vielleicht gibt es jetzt die Chance für eine bessere Zusammenarbeit.

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