So lief der Besuch des Kanzlerkandidaten Olaf Scholz wird in Neuss mit den Sorgen der Bürger konfrontiert

Neuss · Munterer Schlagabtausch, emotionale Appelle, Schützenfest-Zusage: Der Wahlkampfauftritt von Kanzlerkandidat Olaf Scholz in Neuss am Samstagabend sollte ein unterhaltsamer werden – auch wegen des Gesprächsformats.

 Olaf Scholz ging in seiner Begrüßungsrede auf Schmusekurs: „Tolle Stadt, tolle Leute“, sagte er über Neuss.

Olaf Scholz ging in seiner Begrüßungsrede auf Schmusekurs: „Tolle Stadt, tolle Leute“, sagte er über Neuss.

Foto: Dieter Staniek

Ihre Frustration war letztlich stärker als die Nervosität. Hörbar aufgeregt, aber umso emotionaler schilderte Carola Wallow, 57 aus Grevenbroich, am Samstagabend vor Hunderten Zuhörern auf dem Neusser Marktplatz ihre Sorgen. Ihr Adressat: Vizekanzler und Finanzminister Olaf Scholz (SPD). Ihr Appell: Der Braunkohleausstieg muss viel schneller vorangetrieben werden, damit nicht weitere Dörfer wegen des Tagebaus dem Erdboden gleich gemacht werden. Der Tenor: Wertvollster Ackerboden geht verloren und Menschen verlieren ihre Heimat für eine Energiequelle, dessen Ende besiegelt ist. Mit der Antwort von Olaf Scholz zeigte sich Carola Wallow wenig später „nicht zufrieden“, wie sie auf Nachfrage unserer Redaktion erklärte. „Viel zu wirtschaftslastig“, kommentierte sie und zog nach eigenen Angaben damit ein ähnliches Resultat wie nach Gesprächen mit NRW-Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) und Umweltministerin Svenja Schulze (SPD). Scholz machte in seiner Antwort darauf aufmerksam, dass die Kohleverstromung noch einen „riesigen Anteil“ der Energieversorgung in Deutschland ausmache. Seine Sorge: Dass bis zum Ausstiegsjahr 2038 nicht genügend alternative Erzeugungsanlagen entstanden sind und die Kohleverstromung fortgesetzt werden muss.

Es ist 18.59 Uhr, circa eine halbe Stunde vor Carola Wallows emotionalem Appel, als Kanzlerkandidat Olaf Scholz in Begleitung von Bürgermeister Reiner Breuer und Co. den Markplatz betritt. Scholz hatte die Einladung des Bundestagskandidaten Daniel Rinkert angenommen und nahm im Zuge seiner „Zukunftsgespräche“-Tour am „Küchentisch“ der SPD Platz. Das Konzept, was der Veranstaltung tatsächlich etwas Pep verlieh: Jeder, der wollte, konnte seine Frage an Vizekanzler und Finanzminister Scholz oder Rinkert, Vorsitzender der SPD im Rhein-Kreis Neuss, stellen.

Bemerkenswert war zum Beispiel die Geschichte eines jungen Mannes, der seit einem Jahr Student ist und wegen Corona „noch nicht einen einzigen Tag in der Universität gewesen ist“, wie er angab. Was ihn stutzig mache, seien Bilder von zigtausenden Menschen, die ein Fußballstadion besuchen dürfen, während er der Uni weierhin fern bleiben muss. Scholz stellte er die direkte Frage: „Warum sind Fußfall-Fans wichtiger als Studenten?“. Der Kanzlerkandidat machte zwar auf den kleinen Unterschied aufmerksam, dass man sich in einem Fußballstadion unter freiem Himmel und im Hörsaal in einem geschlossenen Raum befindet (offenbar in Bezug auf eine mögliche Ansteckungsgefahr), versprach jedoch, sich dafür einzusetzen, dass es „nicht noch ein viertes Corona-Semester gibt“, in dem man nicht präsent am Campus sein kann. Auch die Präsenz in Schulen könne man nicht durch digitale Ausstattung vollwertig ersetzen.

 Vor der Talkrunde auf dem Markt trug sich Olaf Scholz ins Goldene Buch der Stadt ein. Links von ihm stehen Gisela Hohlmann, stellvertretende Bürgermeisterin (SPD), sowie Bürgermeister Reiner Breuer. Rechts von ihm sind der SPD Fraktionsvorsitzende Arno Jansen sowie Daniel Rinkert, Vorsitzender der SPD im Rhein-Kreis Neuss, zu sehen.

Vor der Talkrunde auf dem Markt trug sich Olaf Scholz ins Goldene Buch der Stadt ein. Links von ihm stehen Gisela Hohlmann, stellvertretende Bürgermeisterin (SPD), sowie Bürgermeister Reiner Breuer. Rechts von ihm sind der SPD Fraktionsvorsitzende Arno Jansen sowie Daniel Rinkert, Vorsitzender der SPD im Rhein-Kreis Neuss, zu sehen.

Foto: Dieter Staniek

Die Chance zum direkten Gespräch nahm auch Dirk Jansen, Vorsitzender des Stadtelternrats in Neuss wahr – vor allem, um den seit Monaten kommunizierten Wunsch nach Luftfiltern zu bekräftigen. Kleiner Trick: Jansen gab an, von Rinkert-Konkurrent Hermann Gröhe (CDU) positive Signale bezüglich der Luftfilter bekommen zu haben. „Die möchte ich von Ihnen auch, damit ich Sie wählen kann“, so Jansen schmunzelnd. Gröhe habe ihm versichert, dass Geld für Luftfilter zur Verfügung gestellt wurde, der Bürgermeister sie allerdings auch abrufe müssen. Daraus entwickelte sich ein munterer Schlagabtausch. Breuer ergriff rasch das Mikrofon, um zu kontern: „Da, wo nicht gelüftet werden kann, stehen bereits Luftfilter. Der Bund stellt allerdings keine Mittel zur Verfügung, um alle Klassen damit auszustatten.“ Breuer wolle nicht im „Schwarzbuch des Bundes der Steuerzahler stehen“, weil die Stadt Neuss unnötige Luftfilter eingekauft hat.

Neben Themen wie Mobilitätswende, verlorene Glaubwürdigkeit der Politik und gerechtere Bezahlung von Frauen stand vor allem der Strukturwandel auf der Agenda. Rinkert dazu: „Dieser Wahlkreis ist einer der stärksten Gewerbe- und Industriestandorte Deutschlands. Wir haben den Chempark in Dormagen, die Aluminiumindustrie in Neuss und Grevenbroich und ein innovatives Handwerk – sie alle sind im Umbruch.“ Wichtig sei dabei, die Beschäftigten in den jeweiligen Betrieben mitzunehmen, ihnen Sicherheit sowie Perspektiven zu geben und Investitionen zu tätigen. So könne man „aus einer Jahrhundertaufgabe eine Jahrhundertchance machen“.

Viel besser hätten die Rahmenbedigungen am Samstagabend für solch eine Veranstaltung kaum sein können: Gutes Wetter, voller Marktplatz. Zwar nutzten zahlreiche SPDler aus Neuss und Umgebung die Chance, „ihren“ Kanzlerkandidaten live zu erleben – aber nicht nur. Carina Baumgart (33) war gerade auf Shopping-Tour in der Innenstadt, als sie die Menschenmenge auf dem Marktplatz entdeckte und die Chance nutzte, Scholz und Co. zuzuhören. „Ich finde, er weicht vielen Fragen aus, er ist eben ein Politiker“, sagte die 33-Jährige schmunzelnd. Positiver fiel das Fazit von Tobias Unterberg aus. „Er wirkt souverän – und lockerer als sonst“, so der 44-Jährige.

Seine Lockerheit muss Scholz – wenn denn für ihn alles nach Plan läuft – womöglich im kommenden Jahr erneut in Neuss unter Beweis stellen. Denn auf Sascha Karbowiaks (Neusser SPD-Chef) vorgegebenen Halbsatz „wenn ich gefragt werden sollte, ob ich im nächsten Jahr als Kanzler Ehrengast beim Neusser Bürger-Schützenfest sein möchte, sage ich...“ antwortete Schulz mit einem Lächeln: „Ich möchte!“

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