Prozess zum Jobcenter-Mord in Neuss Motiv für Bluttat: Wut und Angst vor Datenklau

Neuss · Beim Prozessauftakt um den Mord an einer Mitarbeiterin im Jobcenter von Neuss haben mehrere Zeugen den Angeklagten Ahmed S. als Täter identifiziert. Der 52-Jährige soll die Frau im September 2012 erstochen haben, weil er der Behörde illegalen Handel mit seinen persönlichen Daten unterstellte.

Zu Beginn des Prozesses gibt Ahmed S. wenig von sich preis. Vor den zahlreichen Fotografen verhüllt der 52-Jährige sein Äußeres mit allen Mitteln: Mit der linken Hand zieht der Angeklagte seine Jacke über den Kopf, mit der rechten Hand hält er sich einen Aktenordner vor das Gesicht. Die Verteidiger des Angeklagten kündigen zudem vor dem Düsseldorfer Landgericht an, dass sich ihr Mandant beim Prozessauftakt am Mittwoch nicht zur Tat äußern werde, aber später.

Vorwurf: Heimtückischer Mord

In Saal E.122 des Düsseldorfer Landgerichts wurden am Mittwochvormittag Fotos der blutgetränkten Kleidung des Opfers Irene N. an die Wand: Ein blauer Pullover ist zerschnitten und blutgetränkt, die Einstiche sind mit Pfeilen markiert. Der grausame Tod der Sachbearbeiterin sorgte bundesweit für Entsetzen. Der Vater von fünf Kindern war mit zwei Messern, darunter ein 30 Zentimeter langes Fleischermesser, in die Behörde gestürmt. Bundesweit hatten Mitarbeiter der Arbeitsagenturen mit einer Schweigeminute der Kollegin gedacht. Nach der Bluttat waren die Sicherheitsmaßnahmen in den Jobcentern in NRW überprüft und verschärft worden.

Ein Gerichtsmediziner berichtete, dass ein Stich die Frau vollständig durchbohrt habe. Es seien mehrere innere Organe verletzt und die Hauptschlagader durchstochen worden. Die 32-Jährige sei von innen verblutet. Die Staatsanwaltschaft wirft dem Arbeitslosen heimtückischen Mord aus niedrigen Beweggründen vor.

Angeklagter schuldfähig

Es war angeblich ein Fernsehbeitrag über möglichen Datenmissbrauch durch Meldebehörden, der Ahmed S. zu der Bluttat im Jobcenter von Neuss trieb. Kurz vor Ausstrahlung des TV-Berichts hatte der arbeitssuchende 52-Jährige eine Datenschutzerklärung unterschrieben, mit der er in die Weitergabe seiner Daten an andere Behörden einwilligte. Offenbar sei er nach dem Fernsehbeitrag so wütend auf seinen Berater im den Neusser Bürogebäude gewesen, dass er sich bei dem Mann beschweren wollte, sagt der Verteidiger von S., Horst Ruthmann, am Rande des ersten Prozesstags am Mittwoch in Düsseldorf. Verteidiger Ruthmann will nicht ausschließen, dass sein Mandant die Datenschutzerklärung wegen Problemen mit der deutschen Sprache womöglich "missverstanden" hat.

Co-Verteidiger Gerd Meister fügt hinzu, S. zeige Reue über die Folgen seiner Tat. Erklären kann sich aber auch der Rechtsanwalt das brutale Verbrechen an der Arbeitsvermittlerin nicht. "Es gibt keinen Grund für diese Tat, jedenfalls normalpsychologisch betrachtet." Ein Sachverständiger hatte dem Mann einen Intelligenzquotienten von 75 attestiert. Hinweise auf eine verminderte Schuldfähigkeit hatten die Gutachter nicht feststellen können.

Blutzspritzer im Flur

Im Jobcenter habe er mit der 32-jährigen Mutter über die Erklärung diskutieren wollen, doch die habe abgewunken, weil er keinen Termin hatte und schon der nächste Klient gewartet habe, so die Anklage. Da habe der Mann ein Küchenmesser gezückt und die Frau angegriffen. Als die Klinge abbrach, habe er zum Fleischmesser gegriffen. Der nachfolgende Klient sagte vor Gericht, er habe aus dem Zimmer Schreie gehört. Er sei hineingestürmt und habe den Mann in den Bauch der Frau stechen sehen. Als er in das Zimmer gekommen sei, habe der Täter aufgehört und sei hinausgelaufen. Nachdem im Zimmer des Opfers Alarm ausgelöst worden sei, sei sie auf den Flur gegangen, sagte eine Kollegin der Ermordeten. Sie habe Blutspritzer und den Täter gesehen.

Mit seiner blutigen Hand habe er ihr bedeutet, nicht näher zu kommen. Zwei Polizisten entdeckten den Mann nach eigener Aussage unmittelbar nach der Tat hundert Meter vom Jobcenter entfernt, weil die Personenbeschreibung auf ihn passte. Er habe eine Hand gehoben, in der anderen Hand habe er noch das Messer gehalten, sagte ein Beamter. Auf Aufforderung habe er es weggeworfen. Der mehrfachen Aufforderung, sich hinzulegen, sei er aber nicht gefolgt. Mit einem Tritt in die Kniekehle sei er auf den Boden gebracht, dann gefesselt und durchsucht worden. Er habe danach relativ teilnahmslos gewirkt, nach der Festnahme lediglich mehrfach über Knieschmerzen geklagt.

Ahmed S. war seit dem Jahr 2000 in Deutschland und habe entgegen den Angaben der Ermittler immer wieder als Saisonarbeiter gearbeitet, erklärten die Verteidiger. Er spreche berberisch und sie hätten Zweifel, ob die Dolmetscher bei der Polizeivernehmung diesen Dialekt beherrschten. Verteidiger Gerd Meister kritisierte es als "Schande", dass die Vernehmung nicht per Video aufgezeichnet worden sei.

Das Gericht hatte dem Angeklagten bereits mitgeteilt, dass er zusätzlich zur Verurteilung wegen Mordes auch mit der Feststellung der besonderen Schwere der Schuld rechnen müsse. Ahmed S. räumt das Tatgeschehen ein, bestreitet aber eine Tötungsabsicht.

(dpa/lnw/url/jco/top/sap/afp)
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