Früherer stellvertretender Schulleiter am „Nelly Sachs“ in Neuss Die Abenteuer von Klaus Gröhler

Neuss/Mönchengladbach · Wäre Klaus Gröhler nicht mit 18 Jahren über den Todesstreifen aus der DDR geflohen, hätte er vielleicht nie den Sultan der Malediven getroffen. Vermutlich hätte er auch keine Schüler in Physik unterrichtet und mit 82 seine letzte Stunde an der VHS gegeben.

 An der Volkshochschule hat Klaus Gröhler jetzt seine letzte Unterrichtsstunde gegeben – mit 82 Jahren.

An der Volkshochschule hat Klaus Gröhler jetzt seine letzte Unterrichtsstunde gegeben – mit 82 Jahren.

Foto: Bauch, Jana (jaba)

Wahrscheinlich sind Robinson Crusoe, Kapitän Ahab und Starbuck an Klaus Gröhlers Wanderjahren schuld. All diese Gestalten aus den großen Romanen von Daniel Defoe und Hermann Melville, diese Geschichten von exotischen Inseln und Abenteuern auf hoher See – Dynamit in der Fantasie eines jeden aufgeweckten 14-Jährigen. Zumal, wenn der 14-jährige Leser wie Gröhler in Warnow, einem Dorf zwischen Wismar und Lübeck, aufwächst. In der „Zone“, wie man damals, zu Beginn der 1950er Jahre, in Westdeutschland sagt. Womöglich spielten auch die Gene eine Rolle. Schon Gröhlers Vater war zur See gefahren, als Techniker auf U-Booten im Zweiten Weltkrieg. Und wahrscheinlich waren es auch der Krieg, die schrecklichen Erlebnisse auf der Flucht mit der Mutter und der kleinen Schwester, die aus Klaus Gröhler einen Menschen gemacht haben, den in allen Fährnissen des Lebens offenbar so schnell nichts umwirft. Und der anscheinend gelernt hat, worauf es ankommt.

Diesen Eindruck gewinnt jedenfalls rasch, wer in Gröhlers Wohnzimmer am Tisch Platz nimmt – und erst einmal mit Kuchen und einer Tasse Kaffee bewirtet wird. „Bei der Kälte können Sie den doch bestimmt gut gebrauchen“, sagt der 82-Jährige und greift zur silbernen Thermoskanne. „Der ist eben erst gemacht, der müsste noch heiß sein.“ Lau würde wohl auch niemand erwarten, der Gröhler einmal begegnet ist. Und das war vielen beschieden: Leichtmatrosen und Kapitänen, dem Sultan der Malediven, gewöhnlichen Sterblichen aus aller Herren Länder und Häfen, die Gröhler in zwei Jahrzehnten auf See angesteuert hat: Inder, Malayen, Chinesen, Kanadier. . . Als Gröhler schließlich doch sesshaft wurde, warf er den Anker in Mönchengladbach aus und heuerte als Lehrer an. Unter anderem war er 14 Jahre lang stellvertretender Leiter des Nelly-Sachs-Gymnasiums in Neuss. „Ich pflege heute noch Kontakte zu alten Kollegen. Es war eine tolle Zeit am Nelly Sachs“, sagt er. Seine letzte Unterrichtsstunde aber hat er vor wenigen Wochen an der VHS in Mönchengladbach gegeben, vor seinem 83. Geburtstag. Ein weiter Weg, darum besser der Reihe nach.

 Die erste große Fahrt, die Klaus Gröhler 1954 als Schiffsjunge unternahm, war gleich eine Weltreise.

Die erste große Fahrt, die Klaus Gröhler 1954 als Schiffsjunge unternahm, war gleich eine Weltreise.

Foto: Klaus Gröhler

Das Licht der Welt erblickt Klaus Gröhler im Mai 1936 in Stettin, vielleicht nicht zufällig eine Hafenstadt. In der Familie ist eine Geschichte überliefert, die Gröhler allerdings mit skeptischem Unterton erzählt: „Mit drei Jahren soll ich mit meiner Mutter von der Hafenpromenade Schiffe beobachtet und gesagt haben: ,Eines Tages werde ich auch mal Segelschiff fahren!’.“ Ob’s stimmt oder nicht, wahr geworden ist es.

Allerdings hätte der Krieg das auch verhindern können. Gröhlers Vater erlebt und überlebt ihn auf deutschen U-Booten und schließlich in britischer Kriegsgefangenschaft. Die restliche Familie flieht gegen Kriegsende von der ostpreußischen Grenze nach Westen. Die Mutter, an Typhus und Diphterie erkrankt, muss in einem Feldlazarett zurückbleiben. Nachbarn der Familie geben den neunjährigen Gröhler und seine kleine Schwester beim Bürgermeister von Warnow ab. Der bringt die Kinder bei Witwen unter, setzt den Suchdienst des Roten Kreuzes in Bewegung und sorgt so dafür, dass die gesamte Familie schließlich in dem Dorf wieder zueinander findet. In die FDJ will Klaus Gröhler nicht eintreten. „Da jeder in irgendeiner Organisation sein musste, bin ich in die Gesellschaft für Sport und Technik gegangen.“ Die betreibt nämlich Wassersport, mit Segelschiffen und großen Kuttern.

 Ein Angsthase war Klaus Gröhler nie, auch nicht, wenn es galt, mit einer Kobra auf Tuchfühlung zu gehen.

Ein Angsthase war Klaus Gröhler nie, auch nicht, wenn es galt, mit einer Kobra auf Tuchfühlung zu gehen.

Foto: Klaus Gröhler

Auf große Fahrt gehen, wie Schiffsjunge Jim Hawkins in der „Schatzinsel“, das ist in der DDR damals aber nicht drin. Hilfsweise beginnt Gröhler mit 16 eine Lehre als Schiffsbauer in Boizenburg an der Elbe. Am anderen Ufer liegt Westdeutschland. Gröhler erkundet die Region, lernt einen Bauern kennen. Dessen Felder grenzen an den Todesstreifen, den Patrouillen bewachen. „Wie ist das, kann man hier rüber?“, fragt Gröhler den Landwirt.

Der Bauer warnt, doch Gröhler lässt sich nicht abbringen. „Ich hab’ gesagt ,Egal, die erwischen mich nicht. Na, ja – ich war 18. . .“, erzählt der 82-Jährige über sein jugendliches Ich. Aber richtig fassungslos hört sich das immer noch nicht an.

 Klasu Gröhler

Klasu Gröhler

Foto: Klaus Gröhler

Der Bauer erklärt dem jungen Schiffsbauer schließlich, wann die Patrouillen gewöhnlich unterwegs sind, wann er losrennen und wie lange er sich im gegenüberliegenden Wald verstecken sollte. Gröhler hält sich daran. Er schafft es über den 1954 noch nicht verminten Streifen, durch den Wald, bis er schließlich auf einem Feld Frauen trifft und fragt: „Bin ich hier im Westen?“ Er ist. In der Nähe von Mölln. Die Welt tut sich auf.

in Lübeck heuert Gröhler auf einem schwedischen Schiff als Schiffsjunge an. Die erste große Fahrt wird gleich eine Weltreise. 185 Tage, über China, Kanada, durch den Panamakanal nach England. Der erste Sturm erwischt Gröhler kurz nach dem Ablegen in der Biscaya. „Da ist mir erst mal schlecht geworden. Doch das war in 24 Stunden überwunden. Danach bin ich nie mehr seekrank geworden.“ Das Kabinenputzen und Toilettenschrubben hat bereits in Port Said ein Ende. Der Kapitän heuert einen neuen Schiffsjungen an – Gröhlers Karriere auf See kann beginnen. Sieben Jahre fährt er „vor dem Mast“, das heißt auf den unteren Rängen vom Matrosen bis zum Bootsmann. Dann macht er sein „Großes Patent A5“ und kann auf jedem Schiff als Offizier an Bord gehen. Nur Kapitäne haben einen höheren Rang.

Gröhler nutzt diese Lizenz weitere 13 Jahre. Er fährt für eine Bananendampfer-Reederei, kommt in Diensten eines britischen Reeders bis nach Murmansk und wird von den Russen gezwungen, das Schiff anstelle des erkrankten, zurückbleibenden Kapitäns nach Tromsö zu kommandieren. Er geht in Shanghai und Singapur an Land, schaut sich im Dschungel Sumatras um, schippert bei Windstärke 12 durch 20 Meter hohe Wellen mit Weizen von Argentinien nach Nordenham bei Bremerhaven, bringt Kautschuk von Colombo nach Bombay, Baumstämme von Afrika nach Bremen. Auf den Malediven begegnet er dem Sultan des Inselreichs, der einen Streit mit dem örtlichen Hafenmeister um eine Ladung Reissäcke schlichten lassen muss. Von Male kehrt Gröhler nach Colombo zurück, in einem kleinen offenen Segelboot, ohne Toilette, aber mit Blick auf den Sternenhimmel über dem Indischen Ozean.

Vielleicht wäre Klaus Gröhler noch endlos auf den Weltmeeren gefahren, hätte ihn nicht seine Frau nach 20 Jahren vor die Wahl gestellt: „Entweder die Seefahrt oder ich!“ Dass Gröhler ein Reisender ist, weiß sie zur Genüge. Die gemeinsame Tochter hat der Vater erst kennengelernt, als sie vier Monate alt ist. Aber womöglich wäre die Gattin nicht so resolut gewesen, wäre nicht ein Schiff gesunken, auf dem Gröhler wenige Monate zuvor noch unterwegs gewesen war, und das er nur wegen eines Notfalls in der Familie vorzeitig verlassen hatte. Die Gattin setzt sich durch. Klaus Gröhler wird sesshaft, in Mönchengladbach, wo die Familie seit Mitte der 1950er Jahre wohnt.

Vielleicht hätte Gröhler nicht ausgerechnet auf Lehrer umgeschult, hätte nicht schon ein Verwandter an der Pädagogischen Hochschule die Qualifikation erworben und empfohlen. Erst zögert der Seemann, denn er hat kein Abitur. Andererseits: Über Geographie hat er sich in den 20 Jahren zuvor wirklich gründlich orientiert. Und wenn man, wie er, Seefahrt als „angewandte Physik und Mathematik“ begreift – was soll da schon schiefgehen? Gröhler geht also auch diese Herausforderung an. Er wird Volksschullehrer, unterrichtet dann an der Jungenrealschule Volksgartenstraße, beginnt mit 39 Jahren ein Studium an der Uni Köln, erwirbt die Lehrbefugnis fürs Gymnasium.

Eine Mannschaft im Griff zu behalten und mit ihr ein Ziel zu erreichen, hat Klaus Gröhler auf See gelernt. Meutereien gibt es aber auch in seinem Unterricht nicht. „Wenn er mit Nachdruck sagte: ,So nicht meine Herren, so nicht!’, herrschte augenblicklich Ruhe in der 8a der Realschule. Dabei war er kein strenger, wohl aber ein konsequenter Lehrer“, sagt einer seiner längst erwachsenen Schüler. „Er konnte begeistern. Als Lehrer hat er uns vermittelt, woran er selbst glaubt: Lernen kann richtig Spaß machen. Und: Wir lernen ein Leben lang.“

Das Pensionsalter zu erreichen, kann aber selbst Gröhler nicht verhindern. Er pflegt einige Jahre seine Frau, bis er dann mit 75 seine dritte Karriere beginnt. Er heuert als Steuermann auf einem Segelschiff an, das Passagiere auf Ausflugsfahrten über Nordsee, Ostsee und Ijsselmeer bringt.

Nach einer Operation, die den Stimmbandnerv beeinträchtigt, muss Gröhler nach fünf Jahren endgültig von Bord. „Ich kann nicht mehr laut schreien. Das muss man aber als Steuermann auf einem Segelboot können, um Kommandos zu geben.“ Erwachsene an der Volkshochschule zu unterrichten, dafür reicht die Stimme aber noch. Und das hat Gröhler dann auch getan. Seine letzten Schüler bereitete er vor wenigen Wochen auf Prüfungen vor.

Warum er so lange gearbeitet hat? Gröhler antwortet, ohne mit der Wimper zu zucken: „Weil mir das Spaß gemacht hat.“ Und nach einer kurzen Pause fügt er hinzu: „Konfuzius hat gesagt: Nur der ist ein weiser Mann, der seine Weisheit an die Jugend weitergibt.“ Vielleicht trifft aber ein anderer Satz des Konfuzius’ Klaus Gröhlers Leben noch besser: „Wohin du auch gehst, geh’ mit deinem ganzen Herzen.“

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