Neuss Letzte Freifahrt zur Deponie

Neuss · Grefrath Angelika Molin sieht täglich mehr Neussern in die Augen als wahrscheinlich jede andere Frau in der Quirinusstadt. Minütlich blickte die 54-Jährige in den vergangenen Jahren durch ihr Fenster einer Containerbehausung auf der Mülldeponie in Grefrath. Dort begrüßte sie Tag für Tag die an ihr vorbeifahrenden Autofahrer freundlich, warf erst einen kurzen Blick auf den Personalausweis des Fahrers und dann in den Kofferraum. Danach wünschte sie einen "Guten Tag". Die gleiche Prozedur jeden Tag . . .

 Viele Neusser ergriffen die letzte Gelegenheit, die Mülldeponie kostenfrei zu nutzen und standen deshalb im Stau

Viele Neusser ergriffen die letzte Gelegenheit, die Mülldeponie kostenfrei zu nutzen und standen deshalb im Stau

Foto: NGZ

Grefrath Angelika Molin sieht täglich mehr Neussern in die Augen als wahrscheinlich jede andere Frau in der Quirinusstadt. Minütlich blickte die 54-Jährige in den vergangenen Jahren durch ihr Fenster einer Containerbehausung auf der Mülldeponie in Grefrath. Dort begrüßte sie Tag für Tag die an ihr vorbeifahrenden Autofahrer freundlich, warf erst einen kurzen Blick auf den Personalausweis des Fahrers und dann in den Kofferraum. Danach wünschte sie einen "Guten Tag". Die gleiche Prozedur jeden Tag . . .

 Die letzte Chance, die Deponie kostenfrei zu nutzen, ergriff auch dieser Mann.

Die letzte Chance, die Deponie kostenfrei zu nutzen, ergriff auch dieser Mann.

Foto: NGZ

Am vergangenen Samstag modifizierte die 54-jährige Neusserin dieses Schema nur leicht. Zur Verabschiedung wünschte sie den eineinhalbtausend Autofahrern ein "frohes neues Jahr". Und Angelika Molina händigte jedem Fahrer einen Zettel mit einer traurigen Botschaft aus. Darauf stand, was viele sowieso schon wussten: Neusser müssen ab dem Jahr 2007 für das Abliefern ihres Mülls zahlen. Zehn Euro pro Lieferung. Das Ende der sozialen Müllstadt! Statt Umverteilung auf alle Bürger nun die Kopfpauschale auf jeglichen Unrat. Wer liefert, der zahlt!

Der Ansturm auf die Mülldeponie, den diese Botschaft in den letzten Tagen vor Zahlfrist auslösen würde, war abzusehen. Doch in dieser Deutlichkeit überraschte er auch die Mitarbeiter der Deponie. Rund 7000 Neusser fuhren seit Dienstag noch einmal in Richtung Grefrath.

Die Neusser entrümpelten ihre Keller, sie befreiten ihren Garten vom Grünschnitt, sie trennten sich auch von Dingen, die ans Herz gewachsen waren: Alte Bänke, verrottete Zelte, Kerzenständer. Nichts, was an diesem Samstag, der letzten Chance zur kostenlosen Entrümpelung, nicht der Räumungswut zum Opfer fiel. Dirk Gantenberg (41) und sein Vater Julius Gantenberg (71) hatten noch einmal im Garten gewildert. Eine alte Kastanie fiel ihrer Arbeitslust zum Opfer. Die wurde am Samstag in Grefrath abgeliefert. Auch Angelika (44) und Bert Büchele-Menne (38) waren im Garten aktiv. Eine alte Holzbank musste dran glauben: "Zwei Latten sind schon durchgebrochen. Da kann man eh nicht mehr drauf sitzen."

Rund zwei Autos pro Minute zählte Harry Schütz (51), stellvertretender Leiter der Deponie in Grefrath und so etwas wie eine oberste Aufsicht. Seine Mitarbeiter nennen ihn manchmal scherzend "Commander Harry". Weil Harry Schütz gleichzeitig die Oberaufsicht über die Deponie hat. Wochentags hat die Müllkippe von 7 bis 19 Uhr geöffnet. Samstags immer von 7.30 bis 12.30 Uhr.

Es habe schon immer Stoßzeiten auf der Deponie gegeben, sagt Schütz: "Montags war immer viel Andrang. Und Samstags natürlich." Ob das nun weniger wird? Harry Schütz überlegt. Und dann sagt er: "Ich gehe davon aus, dass es weniger wird." Natürlich sei man deshalb auch in Sorge um Arbeitsplätze. "Wir wissen nicht, ob es bei zwei Schichten bleibt, in denen wir hier arbeiten."

Die neue Müllregelung wird immerhin dafür sorgen, dass einige Anekdoten nicht mehr passieren. Schütz erzählt: "Vor ein paar Monaten fuhr hier mal jemand auf den Hof, der mit dem Aschenbecher aus dem Auto stieg, die Asche in dem Container für Restmüll schüttete und dann wieder weg fuhr." Heute würde der achtsame Fahrer dafür zehn Euro zahlen müssen - und sich die Fahrt wahrscheinlich drei Mal überlegen.

Auch für die Neusser hat die neue Regelung Auswirkungen. "Es werden jetzt weniger Wagen zu uns kommen, die dafür aber schwerer beladen sind", mutmaßt Schütz. Er hofft außerdem, dass die neue Regelung nicht dafür sorgen wird, dass mehr wilde Müllkippen entstehen. Während Schütz das sagt, wird die Autoschlange immer länger. Es ist 12.15 Uhr. Bis auf den Grefrather Weg stehen die Wagen schon. Alle werden es bis 12.30 Uhr, wenn die Müllkippe eigentlich schließen soll, nicht mehr schaffen.

Harry Schütz ist an diesem letzten Samstag vor 2007 gnädig. "Vor 13.30 Uhr werden wir hier heute nicht wegkommen." Die Autofahrer freut's. Es geht schließlich um viel Geld, das sie noch einsparen können. Und Angelika Molin schließt an diesem Samstag das Fenster ihrer Containerbehausung ein paar Minuten später als gewohnt. Ihre Prozedur wird im neuen Jahr um ein Ritual erweitert. Jeder Neusser reicht ihr zehn Euro durch's Fenster.

(NGZ)
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