Internationale Tanzwochen in Neuss Heiterer Frühlingstanz als Zeichen für einen frischen Lebenszyklus
Neuss · Bei den Internationalen Tanzwochen ging es um „Pech“ und „Frühling.“ Gegründet hat sich die Companie aus Brasilien aus Freunden und Geschwistern. Sie wollten mit ihrem Tanz einen ganzen Körper darstellen.
Der Programmzettel täuschte. Angekündigt war bei diesem Gastspiel zuerst das „Pech“ und im Anschluß der „Frühling“. Als dann zwei junge Tänzerinnen, eine in Rot die andere in Dunkel, auf der riesigen Bühne in herrlicher Ausgelassenheit ihre Plätze suchten, mochte man noch kurz zweifeln. Aber wirklich nur kurz, denn die Vollkommenheit ihrer fließenden Bewegungen wirkte ansteckend.
Hier wagten Goethes Zauberlehrlinge im Reich des alten Hexenmeisters ihren fidelen Ausbruch. Hier lag irgendetwas in der Luft, erzeugte wunderbare Vibrationen, lockte weitere Tänzerinnen und ihre Partner an. Es war „Primavera“, der Frühling. Zunächst nur von einem Instrument geleitet, gefielen sich alle in ihren Harlekiniaden. Der erste Auftritt der „Grupo Corpo“ überraschte durch seine Leichtigkeit, durch seine teils klassischen Ballett-Choreographien, durch seine Heiterkeit. Wie sich die Paare immer neu fanden und aneinander Freude hatten, das war scheinbar freies Spiel. Zu jazzig-leichten Rhythmen tanzte die Hoffnung auf eine neue Zeit, einen frischen Lebenszyklus. Gemeint ist mit dieser mitten in der Pandemie entstandenen Komposition natürlich auch die Erwartung, dass die erzwungene Stagnation nicht ewig dauern mochte. In Neuss wurde der brasilianische Frühling lange bejubelt.
Heimat der „Grupo Corpo“ ist die Megacity Belo Horizonte im brasilianischen Bundesstaat Minas Gerais. Dort gründeten sechs Geschwister und ihre Freunde 1975 eine Tanzgruppe, die einen einzigen Körper bilden sollte. Daher der Name. Ihr Stil sollte die ständig fließende Bewegung sein, von den Kritikern als „vollkommen abgerundeter Flow“ gepriesen. Verantwortlich für diese Tanzform und ihre Musik sind die Brüder Paolo und Rodrigo Pederneiras. Sie sind, wie sie sagen, immer auf der Suche nach dem „inneren Tanz des Körpers“. Wie schwerfällig dieser Körper sich geben kann, zeigte „Breu“, auf deutsch „Pech“ oder „Teer“, im zweiten Teil des Abends. In völliger Dunkelheit pochten die Rhythmen des brasilianischen Songwriters Lenine auf ein Boden-Gewürm. Im Stakkato dieser Musik lösten sich aus der amorphen Masse scheinbar mühsam einzelne Körper, gekleidet in eine raffiniert- variationsreiche Musterung aus Schwarz und Weiß. Sie trieben ein liegengebliebenes Wesen vor sich her, eine Weile nur, um sich dann in einer nicht enden wollenden Erd-Akrobatik zu üben: Bodenhaftung als Tanzkunst. Es wurde um Anerkennung gerungen und jeder versuchte, den anderen zu überbieten. Für Rodrigo Pederneiras ist dieses 14 Jahre alte Ballett eine poetische Übersetzung der gewalttätigen, barbarischen Zeiten, in denen wir leben. Nach anderthalb höchst kontrastreichen Stunden zollte das Publikum seine Anerkennung mit stehenden Ovationen.